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Einblick |
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Das Pilatus-Geheimnis – und Juliettas Wiederkehr? |
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Wenn wir uns zurzeit besonders intensiv mit den Angelegenheiten um den Ordo Bucintoro beschäftigen, so geschieht das natürlich nicht willkürlich. Es hat aber nichts, oder beinahe nichts, mit dem vor einer Weile neu gegründeten Bucintoro-Club zu tun, der sich ja nicht als direkte Nachfolgevereinigung des alten Geheimbunds versteht. Doch eine besondere Anregung kam aus diesem Kreis immerhin doch. Diese weist einerseits in eine Richtung, die uns noch näher beschäftigen wird: Das Mysterium um Ennoia, worauf an dieser Stelle aber nicht näher eingegangen werden soll, da ein anderes Motiv näher liegt, das zugleich viel greifbarer ist. Wenn aber auch das Ennoia-Motiv in jenem Club (dieser nennt sich selbst so, es soll kein Orden simuliert werden) eine besondere Rolle spielt, so wird für Kenner/innen der Dinge sogleich klar, daß jene hauptsächlich in Venedig beheimatete Vereinigung eine enge Verbindung zu Charlotte in Osnabrück unterhält. Andererseits wurde von jenem Club aber auch die eher phantastisch-romantische als sonderlich real klingende Idee aufgebracht, Ennoia sei keineswegs alleine erschienen, sondern auch Julietta da Montefeltro sei vor wenigen Jahren auf die Erde zurückgekehrt – wie vermutlich noch weitere Persönlichkeiten des alten Ordo Bucintoro, über die weniger bekannt ist. Die Annahme einer Wiederkehr der Julietta kam nicht ganz von ungefähr; und der auslösende Punkt dazu leitet zu einem weiteren wichtigen Thema des Bucintoro-Ordens: Das Geheimnis um Pontius Pilatus. Über dieses möchten wir gleich noch ein wenig näher sprechen. Hätten die beiden jungen Damen, auf die das Nachfolgende zurückgeht, Recht, so hieße das: Die vor Jahrhunderten errichtete „Sphärenschleuse" müßte sehr gut funktionieren - wenn wir die gleich geschilderten Annahmen für zutreffend halten wollten. Charlotte äußert sich dazu nicht, sie beschränkt sich auf die Feststellung, daß die Zeit für dergleichen auf alle Fälle reif sein müsse. Bisher hatte der relativ neue Bucintoro-Club sich weniger mit geschichtlichen und spirituellen Dingen befaßt, als mit Kleidern der Renaissance oder der genauen Form der Isaisfrisur à la Livia. Betroffene, die dies lesen, werden diese Bemerkung nicht übelnehmen, denn sie entspricht der Wahrheit. Allerdings kann da selbstverständlich eine Erweiterung des Denkens und Handelns stattgefunden haben. Es scheint, daß dem so ist, und zwar ganz unabhängig von der Richtigkeit der Julietta-Annahme. Die Mythen um Julietta sind außerhalb von Venedig kaum bekannt. Hätte sich nicht der romantische Dichter E.T.A. Hoffmann mit diesem Motiv beschäftigt, würde auch Jacques (Jakob) Offenbach nichts darüber erfahren haben. So aber ließ er sich durch die Notizen zu dem nicht mehr fertig gestellten letzten Werk des Dichters zu der Julietta in „Hoffmanns Erzählungen" inspirieren, beziehungsweise zu der in neuere Zeit verlegten Giulietta. Auf diese Weise erlangte jene einst auf eine andere Weise als in der Oper berühmt gewesene Frau aus Venedig eine Bekanntheit, welche aber eben nur marginal mit der Vorlage zu tun hat. Wie E.T.A. Hoffmann seinen Julietta-Roman geplant hatte, wissen wir nicht, da die Skizzen zu dem Buch leider verloren gingen. In seinen Notizen verwendete der Dichter die schon lange nicht mehr übliche Schreibweise des auf Julia zurückzuführenden Namens Julietta, was darauf hinweist, daß er tatsächlich Hintergrundkenntnisse gehabt haben muß. Anderenfalls würde er, wie es später auch Offenbachs Librettist tat, Giulietta geschrieben haben. Allerdings scheint auch Hoffmann seine Geschichte nicht in der historisch richtigen Zeit, der Renaissance, geplant zu haben, sondern im Hochbarock. Es ist vorstellbar, wenn auch durch nichts zu beweisen, daß E.T.A. Hoffmann mit diesem seinem nicht mehr zur Verwirklichung gelangten Werk eine Brücke zu Schillers „Geisterseher" zu schlagen beabsichtigte. Auf jeden Fall kannte er die Legende von der märchenhaft schönen, ewig jungen, unsterblichen Julietta – und er muß auch von ihrer Fähigkeit zur gezielten irdischen Widerverkörperung gewußt haben, denn ein im Grunde allein dazu passendes Moment findet sich im 2. Akt von „Hoffmanns Erzählungen" unverkennbar. Ob Offenbach und dessen Librettist diese Hintergründe durchschauten, wissen wir zwar nicht, doch sind die Dinge trotzdem klar genug zu erkennen für jeden, der über sie im Bilde ist. Über diese Frau, sowie einige der Mythen um sie, haben wir in CN schon gesprochen (siehe etwa in der Rubrik Rückblick: „Das Julietta-Mysterium"). Es gibt zwar eine Menge an Sagen und Geschichten über sie, doch vieles davon dürfte mehr aus romantischer Verklärung denn aus realem Wissen hervorgegangen sein. Insofern soll das bisher über sie Berichtete vorerst ausreichen, denn dabei handelt es sich um einigermaßen gesicherte Fakten. Mehr über sie folgt zu gegebener Zeit, wo nötig mit den gebotenen Einschränkungen bezüglich der Nachweisbarkeit. Doch für die jetzt zu besprechenden Gedanken ist das nicht nötig, denn es geht nur mittelbar um eine Gestalt aus schon lange vergangener Zeit – vielleicht de facto auch gar nicht. Nicht die Geschichte der Julietta selbst steht im Vordergrund, sondern vielmehr ein Motiv, das sie sehr bewegt hat: Das Geheimnis um die letzte Ruhestätte des Pontius Pilatus, welches sie höchstwahrscheinlich zu enthüllen vermocht hat. Doch greifen wir den Dingen nicht zu weit vor. Sagen wir jetzt zunächst einmal: Die unbekannte Dame, welche von zwei Freundinnen des venezianischen Clubs gesehen wurde und die sie – eventuell – für die wiedergekehrte Julietta halten, ist diese - nach unserer Annahme - mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit nicht. Ob jene Frau (unsere Abbildung ist nur fiktiv!) der historischen Julietta tatsächlich ähnlich sieht, wird für uns kaum zu beurteilen sein. Die wenigen Bilder Juliettas sind nicht sehr genau, und das bekannteste war beschädigt, es ist also restauriert, wodurch die Ähnlichkeit sicherlich nicht größer wurde. Es bleibt insofern nicht viel außer der folgenden Beschreibung: Sie war eine auffallend schöne Frau von gutem Wuchs, verhältnismäßig groß, mit braunen Augen und fülligen langen braunen Haaren. Auf die mutmaßliche Wiedererscheinung, eine kultivierte junge Dame von wohl Anfang zwanzig, trifft all dies ebenfalls zu, bloß daß ihre Haare kurz sind. Und schon dieser Punkt macht es unwahrscheinlich, daß die jetzige Frau, von der die Rede ist, eine Widerverkörperung Juliettas wäre; denn Julietta gehörte damals schon nicht zu jenen Damen des Ordo Bucintoro, die, Livias Vorbild folgend, sich ihre Haare schneiden ließen. Warum sollte also eine eventuell wiedergekehrte Julietta es jetzt tun? Damals hätte sogar der Grund bestanden, Schwingungsschreine auszurüsten, heute aber nicht. Die Frisur „sehr ähnlich dem Livia-Stil" ist also nicht unbedingt ein schlüssiges Argument. Allerdings lenkten die beiden Italienerinnen das Gespräch gezielt auf diesen Punkt. Ihre neue Bekannte wirkte in jeder Hinsicht freundlich und offen. Sie ging auf das Frauenthema ein und erzählte, früher habe sie lange Haare gehabt. Es habe ihr aber gut getan, sie abgeschnitten zu bekommen, mit kurzen fühle sie sich viel besser. Auch dies ist wohl nicht so ungewöhnlich, daß man ein Zeichen für Julietta darin sehen müßte. So manche durch und durch irdische Frau trägt belastende Schwingungen mit sich herum, die sie – intuitiv – auf solche Weise ablegt und das natürlich als gut tuend empfindet. Auch bei einer Jenseitigen wie Ennoia erscheint es logisch (siehe dazu Charlotte). Ausgerechnet bei Julietta wäre es aber sehr unwahrscheinlich. Sie käme aus einer lichten Sphäre, frei von unguten Schwingungen. Sicher könnten auf der Erde negative Schwingungen auch bei ihr einziehen, aber nicht schnell. Uns ist bekannt, daß Julietta recht eitel war, und dies nicht zuletzt im Hinblick auf ihre besonders langen Haare. Zwar belegen mehrere Texte, daß solche in der Bucintoro-Gemeinschaft nicht als schön gegolten haben, sondern der Livia-Stil in höherer Achtung stand, doch Julietta scheint anderer Meinung gewesen zu sein. Die kurze Frisur der Unbekannten spricht also zunächst einmal dagegen, daß sie Julietta ist, obwohl selbstverständlich niemand genau sagen kann, wie Julietta sich im Fall des Falles einer irdischen Widerverkörperung verhalten würde. Keiner von uns hat sie schließlich persönlich kennengelernt. Wir können also nur nach dem gehen, was über sie berichtet wird. Wenn die bewußte Dame etwa Anfang zwanzig war und sowohl Italienisch wie Deutsch perfekt beherrschte, so ist dies ebenfalls kein eindeutiger Hinweis, das können verhältnismäßig viele Menschen in der Schweiz – und die wie zufällig angetroffene junge Dame ist Schweizerin – beziehungsweise, wie unsere zwei Freundinnen meinen, stellte sie sich als Schweizerin vor, genauer gesagt, als Deutschschweizerin, und sagte, sie heiße Julia (bzw. Giulia, denn ihr Italienisch war so gut, daß sie ohne weiteres auch Italienerin hätte sein können). Die gewissen äußerlichen
Ähnlichkeiten sagen also wenig dazu aus, ob dort eine wiedergekehrte
Julietta angetroffen worden war. Schon eher bemerkenswert ist, daß diese
Frau offenbar einiges um den alten Bucintoro-Orden wußte. Aber das
könnte sie sogar aus dem Internet haben. Wenn sie sich mit dem Namen
Julia vorstellte, so kann das entweder Zufall sein, oder sie hat sich mit
der Namensähnlichkeit bewußt einen Scherz erlaubt. Erstaunlicher ist
schon der Ort, an dem es zu der Begegnung kam, denn dieser Ort ist für
den Ordo Bucintoro wirklich von Bedeutung gewesen, wie zuvor schon für
die geheimwissenschaftlichen Templer: Luzern – genauer gesagt: eine
Gegend am Fuße des Pilatusbergs bei Luzern.
Diesen Platz hat die historische Julietta mindestens zweimal aufgesucht, wahrscheinlich sogar öfter. Die jetzige „Julia" tat dies auch, ihren Worten zufolge erstmals, denn, so sagte sie, sie wohne in Lugano. Dies weckt natürlich die Frage, ob „Julia" womöglich mit Yvonne bekannt ist (einer der seinerzeitigen NOV-Gründerinnen), die seit geraumer Zeit in Lugano verheiratet ist. Lugano ist keine kleine Stadt, es kennt dort nicht jeder jeden. Aber Gleichgesinnte der oberen Bildungsschicht, zu der „Julia" sicher gehört, würden sich doch recht leicht kennenlernen können. Aber es ist nicht bekannt, wie lange „Julia" dort schon wohnt. Da sie erwähnte, aus der Deutsch-Schweiz zu stammen (woher genau, sagte sie nicht), also nicht aus dem Tessin, muß sie noch nicht lange in Lugano leben, zumal sie ja erst Anfang zwanzig ist. Yvonne kennt sie jedenfalls nicht, auf alle Fälle nicht unter dem Namen Julia. Was die Beschreibung des Äußeren anbelangt so ist diese nicht so markant, daß sie einzigartig zu nennen wäre, obwohl ihr Gesicht außerordentlich schön ist, wie unsere Freundinnen sagen. „Julia" wußte offenbar eine Menge, und wenn sie auch nicht in Einzelheiten ging, so sprach sie gegenüber den beiden Damen aus Italien doch einigermaßen offen darüber. „Julia" schien überhaupt in mystischen Dingen bewandert zu sein. Sie machte Andeutungen über gewisse Querverbindungen zu gnostischen Geheimbünden in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten, die zum Teil aus Ägypten kämen, aber meist falsch verstanden worden seien. Sie überließ jedoch die Gesprächsführung den beiden anderen. Die junge Schweizerin wirkte nie wichtigtuerisch, machte aber, wohl unwillentlich und ohne sich dessen bewußt zu sein, in manchen Momenten einen „altklugen" Eindruck (unsere beiden Freundinnen sind allerdings selber nicht viel älter). Julia war in den Gesprächen, während des Spazierens – denn es war mehr ein Spazieren als Wandern – hin und wieder von dem Thema abgeschwenkt, welches die zwei Italienerinnen am meisten interessierte. Als diese darauf hinwiesen, wußte „Julia" recht gut, daß es am Fuße des Pilatusbergs eine Stelle geben müsse, an der Pontius Pilatus begraben liege. Denn, anders als die am häufigsten zu hörende Geschichte, sagen u. a. die Wiener Archive folgendes über ihn: Pontius Pilatus, der Jesus Christus nicht verurteilen wollte, war mit einer Tochter des Kaisers verheiratet. Seine Frau, Claudia, war zwar zunächst keine Christin, sie bewunderte aber den mutigen und gleichsam sanften Christus, wie sie auch von dessen Worten fasziniert war. Pontius Pilatus empfand ebenso. Zur Zeit der Kreuzigung Christi war das jüdische Passah-Fest, Eiferer beherrschten die Straßen, von denen der laut Ruf: „Kreuzigt ihn!" gegen Christus ertönte. Pilatus hatte gerade seine Truppen zur Niederschlagung eines Nabathäer-Aufstands abgegeben, er verfügte lediglich über seine Leibwache. So ist es ihm unmöglich gewesen, Christus zu schützen. Und dies erst erklärt seine Worte: „Ich wasche meine Hände in Unschuld", weil er in der Tat unschuldig war, er konnte den Mord an Jesus Christus nicht verhindern (im Jahre 56, als die Gelegenheit günstig war, nahm er Rache dafür). Anders als es heutzutage gern dargestellt wird, tragen also nicht die Römer Schuld an der Kreuzigung Christi. Und allein der Glückliche Umstand, daß seine Frau eine Tochter des Kaisers war, die ihren Einfluß bei diesem geltend machen konnte, bewahrte ihren Mann vor Strafe, denn dieser hatte nicht verhindern können, daß Römisches Recht gebrochen wurde. Nach der Auferstehung Christi wurde Claudia endgültig Christin, und auch ihr Gatte näherte sich diesem Glauben an. Als Pontius Pilatus dann später in den Ruhestand versetzt wurde und seine Gattin bald darauf verstarb, beschloß er, ein Verkünder der Lehre Christi zu werden. So wanderte er bis über die Alpen, in die Länder der Germanen und Kelten. Und während er von einem Bergvorsprung aus das Wort Christi verkündete, kam von hinten ein Druide und stürzte ihn in die Tiefe. Der Berg, an dem dies geschah, heißt seither: Pilatus-Berg. Die Anhänger des Predigers Pontius Pilatus begruben diesen mit alledem, was ihm am wertvollsten gewesen war. Darunter befand sich eine Abschrift des wahren Evangeliums, welche Pilatus in einem Behälter aus Silber aufzubewahren pflegte. Soweit zur wahren Geschichte des Pontius Pilatus. Dieser Schatz – das wahre Wort Christi! – war es, wonach im 13. Jahrhundert die Templer suchten, ohne fündig zu werden. Im 16. Jahrhundert nahmen Leute des Ordo Bucintoro diese Suche erneut auf. Julietta beteiligte sich persönlich daran, sie war dabei vermutlich sogar die treibende Kraft. In Begleitung männlicher Mitglieder des Bucintoro-Ordens, und unterstützt durch Freunde vor Ort, wurde die Suche betrieben; unauffällig aber sorgsam. Es heißt, man habe die Stelle gefunden. Von da an unterscheiden sich die nicht mehr direkt aus der Zeit stammenden Hinweise. Eine Variante der Geschichte behauptet, Julietta habe Scheu empfunden, das Grab dieses großen Mannes, der zum Märtyrer geworden war, öffnen zu lassen. Eine andere Version beschreibt, wie sie dies doch tat und im Massiv des Pilatusbergs eine Gruft für ihn schaffen ließ. All sein heiliger Besitz sei ihm wieder beigegeben worden, nachdem von dem Evangelium eine Abschrift angefertigt worden war. An der Stelle aber, an der Pilatus ursprünglich begraben gewesen war, habe Julietta eine unterirdische Kammer bauen lassen, fest mit gemauerten Wänden, in welche von da an Abschriften der wichtigsten Erkenntnisse des Ordo Bucintoro sowie manche Schätze gebracht worden seien. Diese zweite Version ist nicht nur die ältere, sondern sie entspricht auch mehr dem, was wir vom Charakter dieser tatkräftigen Frau wissen. In den Jahren vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hat man, von Wien aus geleitet, nochmals einen Versuch unternommen, die Verstecke zu finden, jedoch ohne Erfolg. Die genauen Stellen sowohl der Gruft wie der unterirdisch gemauerten Kammer sind auch in italienischen Quellen nicht genannt. Das muß allerdings nicht viel besagen, denn eine ganze Reihe wertvoller Schriften und Gegenstände des Ordo Bucintoro sind nicht auffindbar, obwohl sicher nichts davon geraubt worden sein dürfte. Die letzten Verstecke des Ordo Bucintoro kennt niemand – niemand von dieser Welt. Von alledem schien „Julia" zumindest einiges zu wissen. Wie viel genau, läßt sich nicht einschätzen, sicherlich mehr, als sie sagte. Unsere zwei Freundinnen, die auch auf den Spuren des Pilatus und der Julietta gehen wollten - wenn auch nicht etwa, um zu graben - gewannen auf jeden Fall den Eindruck, ihre neue Bekannte sei besser unterrichtet als sie, die sie sich doch auf diese Exkursion eigens vorbereitet hatten. Als es dämmerte, fuhren sie gemeinsam in die Stadt. Julia war ohne Auto, sie habe sich von einem Taxi herausfahren lassen, sagte sie. Für den nächsten Tag verabredeten die drei jungen Damen, gemeinsam wieder zum Pilatusberg zu fahren. Julia ließ sich beim Hotel N. absetzen, wo sie am kommenden Morgen um acht Uhr wieder angeholt werden würde. Allerdings: „Julia" war am nächsten Tag nicht zur stelle, und im Hotel N. kannte auch niemand eine hübsche junge Frau mit dem Vornamen Julia, auch keine anderen Namen, auf welche die Beschreibung gepaßt haben könnte. Vermutlich bewohnte sie ein privates Quartier oder sogar eine eigene Wohnung in Luzern, hatte das aber nicht sagen wollen, aus welchen Gründen auch immer. Es braucht dahinter kein großes Geheimnis zu stecken. Also: Muß – oder kann – diese Julia eine Wiedererscheinung der Julietta gewesen sein? Sie könnte – vielleicht – eventuell. Doch es muß nicht so sein! Und aller Wahrscheinlichkeit war es auch nicht so, sondern es gibt einfache, uns aber nicht bekannte Erklärungen für die im Grunde wenigen Sonderbarkeiten um „Julia". Selbstverständlich wurde nicht verabsäumt, in Wien nachzufragen ob eine junge Frau, auf die Julias Beschreibung paßte, dort bekannt sei. Denn daß „Julia" offenbar den Ort kannte, wenigstens die ungefähre Stelle – die genaue kennt ja niemand – das war doch schon erstaunlich. Das Wissen darum hat nie die innersten Kreise der Gemeinschaft verlassen. Aber genau dort am Pilatusberg spazierte „Julia" einher, und dabei bot sie den Eindruck, als ob sie sich recht gut auskenne – obwohl sie, ihren Worten zufolge, erstmals da war. So empfanden es wenigstens unsere beiden Freundinnen, die ja dasselbe vorhatten, als sie „Julia" dort trafen, die aber wohl doch – nicht die wiedergekommene Julietta da Montefeltro war, beziehungsweise ist. Das Auffinden des Pilatus-Grabs ist Julietta ein besonderes Anliegen gewesen, das wissen wir sicher. Obschon der Ordo Bucintoro in den monotheistischen Religionen – Kirche, Synagoge, Moschee – ein Erzübel sahen, das es in der Neuen Zeit zu entmachten gelten würde, war der Blick auf Christus stets ein völlig anderer. Christus galt als der höchste Gott des Lichts. Diese Auffassungen waren der Lehre Marcions ähnlich, ohne aber mit dieser in allem identisch zu sein. Ein vollständiges wahres Evangelium aufzufinden war aus Sicht des Ordo Bucintoro so wichtig, weil diese Schrift bei Anbruch des Neuen Zeitalters hilfreich sein würde, um die Irrlehre der Kirche vor deren unbedarften Anhängern zu enttarnen. Im Ordo Bucintoro selbst benötigte man die Schrift nicht, die sich im Grab des Pontius Pilatus finden mußte. Man wußte, was man glaubte. Für den Umsturz gegenüber den unwissenden Massen aber, war sie höchst wertvoll. Denn nicht das wahre Christentum sollte beseitigt werden – sondern das falsche. Ist also inzwischen Julietta wieder auf dieser Erde, um die letzten noch nötigen Vorkehrungen zum Gelingen der großen Wende zu treffen? Wer wollte darauf Antwort geben! Es klingt nicht wahrscheinlich. Doch es ist auch nicht unmöglich. Und sollte Charlotte mit ihrer Ennoia-Sicht Recht haben, was ja auch noch als vage anzusehen ist, so hieße das auf jeden Fall eines: Die entscheidende Wendezeit steht jetzt wirklich bevor, abermals viele Jahre können bis dahin nicht vergehen – ein paar Jahre vielleicht, aber nicht viele. Die „Handelnden von jenseits der Zeit" betreten die Bühne des Geschehens – sofern dabei kein Irrtum besteht. Vielleicht werden wir im Sommer dieses Jahres mehr und Genaueres wissen, beziehungsweise aus guter Überzeugung zu wissen glauben, wie der Erdenmensch es nur ausdrücken kann. |
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