|
Einblick |
||||||
Heim nach Atlantis - heim nach Vineta |
|||||||
Heim nach Atlantis, heim nach Vineta …
Prunk, Reichtum und Macht, ganz plötzlich durch Zorn der Götter oder ein namenloses Schicksal von den Wogen des Meeres verschlungen, untergegangen und nicht mehr auffindbar, lebendig geblieben allein in Mythen und Sagen – dieses Motiv hat die Menschen zu allen Zeiten fasziniert. In Europa steht dafür vor allem Atlantis. Nach Platons „Atlantisbericht", welcher seinen Dialogen Timaios und Kritias entstammt, versank die wunderbare Großinsel Atlantis zehntausend Jahre vor seiner Zeit im Meer, mit allem, was auf ihr war. Wer hätte nicht schon davon gehört, womöglich Bücher darüber gelesen und sich auch seine eigenen Gedanken gemacht. Was und wo Atlantis gewesen sei, darüber bestehen zahllose Hypothesen. Sie beginnen bei schulwissenschaftlich klein gedachten Vorstellungen, die sich innerhalb des Mittelmeeres halten, und reichen von einem versunkenen Erdteil im atlantischen Ozean bis zu der vielleicht realistischen Annahme Jürgen Spanuths, welche in die Region von Helgoland führt. Spanuths Theorie hat einiges für sich. Ihm fiel auf, dass Platons Atlantisbericht ja wiedergibt, was Solon bei einem Besuch in Ägypten erfahren haben soll; und in Ägypten wurde in Mondjahren gerechnet, was heißen könnte, dass die genannte Zeit nicht zehntausend Jahre, sondern Monate bedeutet. Damit gelangte Spanuth in eine historisch erfassbare Zeit, und vieles fügt sich nun scheinbar logisch zusammen. Das Wundersame rückte somit ins Ermessbare. Auch hinsichtlich der Größe nahm Atlantis bei Spanuth bescheidenere Ausmaße an. Dergleichen aber hat den Mythos Atlantis nicht zu schmälern vermocht. Die Phantasie mag das Einfache und womöglich Logische nicht allzu gern, sie lässt sich den Traum nicht verderben. Und schließlich: Vielleicht irrte Spanuth ja auch? Niemand weiß es genau! Es ist im Grunde auch gar nicht allzu wichtig, denn nicht die mögliche historische Wirklichkeit macht die Bedeutung von Atlantis aus, sondern eben die Anmutung des Wundersamen, der Mythos, welcher der Phantasie den Boden bereitet.
Gemessen an Atlantis erscheinen zwei andere, real zumindest grundsätzlich erfassbare, versunkene Städte weniger fesselnd, obschon diese beiden gleichfalls reich an Mythen sind und bei näherer Betrachtung kaum weniger faszinierend: Rungholt und Vineta; zwei der Legende nach einst reiche Städte, die im Meer versunken sind wie einstens Atlantis: Rungholt in der Nordsee, und Vineta in der Ostsee. Rungholt befand sich, der Legende zufolge, etwa dort, wo heute die Insel Pellworn liegt, nach Nordstrand zu. Tatsächlich muß es dort früher festes Land gegeben haben. Dort also lag Rungholt – eine märchenhaft reiche Stadt, schön, mächtig doch nicht frei von sittlichen Mängeln. Eines Tages erzürnten die Götter über das Tun der Leute von Rungholt so sehr, daß sie die Stadt untergehen ließen. Und so versank Rungholt nebst dem umliegenden Land in den Fluten, und zugleich alle Bewohner der Stadt. Die strikte Wissenschaft windet sich um klare Aussagen diesbezüglich herum. Aufgezeichnet ist die Legende auf alle Fälle seit dem 14. Jahrhundert, und diese Schrift beruft sich auf noch viel ältere. Tatsächlich wurden in den 1920er und 1930er Jahren auch bereits archäologische Spuren gefunden. Heutzutage paßt ein prachtvolles Rungholt zu früher Zeit aber nicht in das ideologische Bild einer von wilden Nordleuten behausten Gegend, und neu nachzudenken ist den meisten heutigen Wissenschaftlern zu mühsam, ja geradezu unangenehm, wenn dadurch Germanen – oder Vorfahren der Germanen – in ein gutes Licht gerückt werden müßten. Ja, das wäre heutzutage noch immer unerwünscht. Dabei bewies spätestens der Fund der Himmelsscheibe von Nebra, daß die Kultur der frühen Germanen älter sein könnte und in mancherlei Hinsicht höher stand als selbst die des alten Babylon oder Ägypten. Wir wollen aber nicht den Streit aufgreifen, ob die Kultur von Süden nach Norden ging oder, in frühsten Zeiten, womöglich von Norden nach Süden. In einer ehrlichen Forschung hat Ideologie nichts verloren, weder die eine noch die andere. Falls die Vor- und Frühgeschichte anders verlief, als die Fachwissenschaften zurzeit behaupten, läßt es sich schwerlich nachweisen, und es gibt gewißlich wichtigere Themen als dieses. Auf alle Fälle wurde die Rungholt-Sage auf ein angeblich unbedeutendes Ereignis im Mittelalter zusammengeschrumpft, beziehungsweise eine ernsthafte Forschung nach Rungholt fand nicht mehr statt, ebensowenig wie die auf ihre eingefahrenen Bilder festgelegte Schulwissenschaft Spanuths Atlantis-Vorstellungen aufgriff, die ja – vielleicht – mit der Rungholt-Sage verbunden sind. Die Klischees von den „wilden Nordleuten" sollen bestehenbleiben – ob richtig oder falsch, danach fragt dogmatische Ideologie nun einmal nicht. Objektiv betrachtet darf aber zumindest eines als gewiß gelten: Rungholt war – genau wie Vineta – sehr viel älter und größer, als es dargestellt wird, sofern man überhaupt davon spricht. So hat in jüngerer Zeit Professor Hans Peter Duerr unübersehbare Spuren einer Stadt aus der Bronzezeit an jener Stelle nachgewiesen, an welcher, der Sage nach, Rungholt gelegen hat, doch wird dies von der Schulwissenschaft gern ignoriert, nach dem Motto: Wenn man nicht hinschaut, muß man auch nichts sehen und wahrnehmen. Ähnlich steht es um Vineta, eine reiche Handelsstadt von beachtlicher Größe, vermutlich auf einem ins Meer abgesunkenen Teil der Insel Usefom gelegen, auf jeden Fall aber nahe von Usedom, eventuell auf einer einst existierenden Insel zwischen Usedom und Wollin. Auch Vineta, so heißt es, war eine reiche, prächtige Stadt, welche ihre Herrschaft auf das Umland ausübte. Weil ihre Bewohner sich in Lastern ergingen, so spricht die Sage, tauchte eine Göttin aus der See auf und rief: „Vineta, du reiche Stadt, Vineta soll untergehen, weil dort Böses getan wird!" Und die Stadt versank im Meer. Allein das Läuten ihrer Glocken war noch lange von unter dem Wasser zu hören. Die frühesten Berichte – Legenden – über Vineta liegen aus dem 9. Jahrhundert vor, doch die Geschichte Vinetas reicht gewiß noch weiter zurück. Die oft geäußerte Theorie, Vineta gehe auf „Wendenstadt" zurück, kann nicht schlüssig erscheinen. Logischer klingt die Idee, Vineta habe mit dem frühen Venedig in einer Verbindung gestanden. Doch niemand weiß darüber bisher Genaues. In der Kaiserlichen Marine erhielt übrigens ein Kreuzer die Ehre, auf den Namen „Vineta" getauft zu werden – und dieses Schiff ging nicht unter. Auffallend ist, daß sowohl Rungholt wie auch Vineta um ihrer Sünden Willen durch göttliche Mächte vernichtet worden sein sollen. Dabei ist aber zu bedenken, daß die erhaltenen Aufzeichnungen aus christlicher Zeit stammen, die beiden Städte aber in vorchristlicher Zeit ihre Hochblüte gehabt haben dürften. Wie die ursprünglichen, nicht christlich beeinflußten Darstellungen lauteten, ist unbekannt. Vieles spricht aber dafür, daß diese dem von Plato gezeichneten positiven Atlantisbild ähnlich gewesen sein könnten – womit freilich nicht gesagt sein soll, diese beiden Städte seien mit Platons Atlantis identisch gewesen! Bezüglich Vinetas ist ein wichtiger Punkt der Legende, daß die Glocken der versunkenen Stadt noch immer mitunter zu hören seien, wenn die Meeresströmung sie zum Schwingen bringt. Bei Glocken ist sogleich an Kirchenglocken zu denken. Die Sage aber spricht von einer Göttin, durch deren Zorn Vineta versank, sie dürfte also aus heidnischer Zeit stammen. Sowohl über Vineta wie auch über Rungholt werden wir einmal in einer späteren CN-Ausgabe noch ausführlich berichten, und dann auf historische Einzelheiten sowie auf die verschiedenen Legenden eingehen. Heute steht der symbolische Charakter der versunkenen Städte im Vordergrund. Wieso faszinieren uns Menschen solche Geschichten so sehr? Nicht allein uns Europäer und Amerikaner, die ihre Sagen von Atlantis, Rungholt und Vineta haben, sondern auch Asiaten, die durch japanische Sagen von einer versunkenen Großinsel namens Mu im Pazifik wissen, welche mit der Vorstellung von Lemuria identisch sein dürfte, worunter man sich allerdings keine Insel, sondern eine vorzeitliche Kontinentalverbindung vorstellte. Dort gibt es also quasi ein Gegenstück zu Atlantis. Einer bisher unbelegten Annahme zufolge sollen auch die Mayas an solch eine Sage Erinnerungen gehabt haben. In Japan entstand in den 1960er Jahren sogar ein Film, in dem ein U-Boot während des Zweiten Weltkriegs den versunkenen Erdteil Mu entdeckt. Es dürfte kein Zufall sein, wenn solche Mythen immer dort auftauchen, wo Kulturen einen hohen Stand erreicht haben und demzufolge viel zu verlieren wäre, würde sich ein Schicksal wie das der sagenumwobenen Stätten wiederholen. In alle den betreffenden Mythen wird ja erzählt, wie auf dem Höhepunkt von Macht und Reichtum der Untergang kam. Das ist sicherlich einer der Aspekte der Mythen à la Atlantis oder Rungholt, soweit es die Zeit anbetrifft, in der solche Sagen erstmals in weiterem Umfang Bekanntheit erlangten. Das aber hat mit der Jetztzeit nichts zu tun. In einer schwierigen Zeit wie der jetzigen ist es ein anderer Aspekt, der solche Mythen beliebt macht, und dieser soll uns heute näher interessieren. Nicht zufällig ist das Atlantis-Thema im Deutschland der Zwischenkriegszeit populär gewesen, als die Menschen unter der Drangsal des Versailler Vertrags litten – oder Mu in Japan, als die Niederlage von 1945 die japanische Volksseele bedrückte. Und dann traten solche Motive wieder mit der Esoterik-Welle der jüngsten Jahrzehnte an vordere Stelle, mit jener Esoterik-Welle, die im Grunde eine einzige große Protestbewegung gegen die „Westliche Gesellschaft" bedeutet. Die versunkenen Stätten – Atlantis, Rungholt, Vineta, Mu – stehen ja auch für den Gipfel einer goldenen Zeit, für ein Leben, dass Bedrängnis und Not, wie das gegenwärtige Dasein es vielgestaltig beinhaltet, nicht kannte – zumindest in der legendenumwobenen Vorstellung. Die versunkenen Reiche können daher auch gleichsam innere Fluchtpunkte für die Seele sein – um es einmal leicht pathetisch auszudrücken. Wohin kann der heutige Mensch in der „modernen westlichen Gesellschaft" sich auch noch wenden, wo der Geist das findet, wonach er sich von Natur aus sehnt: Geborgenheit. Die sogenannten „multikulturellen Gesellschaften" zerstören jedes Heimatgefühl. Wo überall Fremdes ist, kann sich niemand mehr zu Hause fühlen. Wer opportunistisch anderes behauptet, lügt. Zugleich bewirkt auch der seelenlose Kommerzialismus ein Empfinden von Friedlosigkeit. Der Mensch ist unablässig gehetzt, gehetzt von fremden Anblicken, gehetzt von gewalttätigen Filmen und Fernsehsendungen, gehetzt von brutalen Rhythmen einer nur das Niedrige im Menschen ansprechenden Unterhaltungsindustrie. Auch Sport bietet oft keinen Ausweg, denn dieser ist längst ebenso kommerzialisiert, auch Doping und Schiebung haben ihn nachhaltig entstellt. Wohin soll der Geist sich noch begeben können, um Ruhe zu finden, ein Zuhausegefühl, Geborgenheit? All das ist in der realen Welt zerstört, und die Zustände werden immer noch schlimmer. Wo wäre ein Ausweg? Es scheint keinen zu geben. Religion? Welche denn, diese alle sind ja auch längst „angekommen" im System von Zerstörung und Selbstzerstörung. Bleibt der persönliche Glaube, gewiß. Das hieße dann gewissermaßen innere Emigration? Nein, denn das wäre Flucht vor der Wirklichkeit. „Innere Emigration" wäre ja etwas anderes als die körperliche Flucht vor einer zeitweilig im Lande herrschenden Despotie, in der Hoffnung, heimkehren zu können, wenn der Despot gestürzt ist. Die heutige Despotie aber herrscht überall, und wer sollte sie stürzen? Es gilt, gegen den Strom schwimmend auszuhalten, und dafür ein stilles, geistiges Kraftreservoir zu haben. So wandert mancher Geist inmitten des verrohten Alltags nach Atlantis oder Vineta – auch wenn dieser innere Ausweichpunkt für den einzelnen einen anderen Namen tragen mag. Dieses Tun ist keine Flucht, es hat nichts mit Feigheit zu tun. Die inneren Ausflüge nach Rungholt oder Vineta – oder wohin auch immer – sind ja stets nur kurz, und sie bedürfen keiner berauschenden Mittel. Es ist einfach das Ausrasten des Geistes, um frische Kraft aufzutanken für den Lebenskampf. Allein der Mensch, der das nicht mehr vermag, der schon zu schwach ist, sich innerlich gegen das ihn umgebende Übel zu stemmen, darf der Feigheit bezichtigt werden, denn solch ein Mensch hat sich selbst aufgegeben. Er findet keinen Ausweg mehr Kraft seines Geistes, sondern greift zu lärmenden Drogen der Unterhaltungsindustrie, zum Rauschgift oder zur Schnapsflasche. Dieser hat sich dem herrschenden System unterworfen, er hat gewissermaßen seine Seele verkauft, ist zum willenlosen Sklaven des „Fürsten dieser Welt" geworden, wie Christus bekanntlich den Satan nennt – mag man dies nun wörtlich oder auch nur sinnbildlich nehmen. Wenn die Wirklichkeit, die den Menschen umgibt, das seiner Natur Notwendige nicht mehr bietet, weil Ideologen und Geschäftemacher es zerstört haben, dann sucht er unwillkürlich nach Auswegen. Das heißt nicht, sich aus der Welt hinwegzuträumen! Das gerade nicht. Es heißt vielmehr, seinen persönlichen Kraftspeicher zu haben, den niemand anzutasten vermag, in dem er unumstrittener Hausherr ist – auf ein paar Stunden in der Woche, um frische Kräfte zu schöpfen. Beispielsweise in Atlantis oder Vineta. Vielleicht auch in den Fernen des Weltalls – oder mit Kara ben Nemsi auf Wüstenabenteuern. All das kann sehr unterschiedlich gestaltet sein. Für den einen Menschen ist es vielleicht, ein paar Verse in Homers Odyssee zu lesen oder aus Goethes Faust, mag er diese Werke auch schon auswendig kennen: Es führt ihn doch für wichtige Momente in eine andere Welt. „Atlantis", „Rungholt" und „Vineta" müssen ja nicht wörtlich genommen werden, nein, diese Namen stehen sinnbildlich für die Fähigkeit des Menschen, sich inneren Freiraum zu schaffen, einen Platz, an dem die gegenwärtige „Gesellschaft" keine Macht ausüben kann, an dem es nichts – absolut gar nichts – von dieser gibt. Nach solch kleinen inneren Ausflügen zurückgekehrt auf das Schlachtfeld des Lebens in dieser friedlosen „Gesellschaft", hat der Geist Kraft aufgetankt. Wo ist Atlantis? Wo ist Rungholt und wo ist Vineta? Es ist in uns! Wenn wir aber einen äußeren Ausgangspunkt dorthin suchen, können wir an dieser Stelle auch sagen: Es ist hier! Hier, wo sich niemand dem Zeitungeist unterwirft – allem zum Trotz - hier, wo Menschen sich gegenseitig Kraft geben wollen. Denn wir dürfen das Feld dieses Lebens nicht dem „Fürsten dieser Welt" überlassen. Der Tag wird kommen – plötzlich und unentrinnbar – an dem der große Despot gestürzt werden wird. Niemand auf Erden kennt diesen Tag, aber er kommt! Und dann – wie der große Despot in der Hölle verschwindet – werden Atlantis, Rungholt, Vineta und Mu, wieder aus den Wellen des Meeres auftauchen, mit ihren besten Seiten, frei von Drangsal und Übeln. Natürlich, das ist abermals bloß sinnbildlich gesprochen, aber in gewisser Weise doch ein Symbol, ein Symbol für die Wiederkehr des Verlorenen Guten, auf die nicht vergeblich gehofft werden möge. |
|||||||