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Z-Plan  (Auszug-4)

       
     
       
     

Z-Plan  -  Auszug-4

       
     
       
      Z-PLAN (Auszug 4)

......... Die zweimotorige Dakota stand abseits am Rande des Flugfeldes. Gegen blankgeputzte modernere Maschinen wirkte sie wie ein vernachlässigtes Stiefkind. Lukowsky parkte seinen Wagen vor dem Abfertigungsgebäude für Luftfracht. Dann ging er zu dem Flugzeug, um das sich niemand kümmerte. Die großen Sternmotoren waren mit grauen Planen verhängt. Lukowsky schritt um das Flugzeug herum und streichelte das kühle, vom Morgendunst feuchte Metall des Höhenruders. Pünktlich um acht erschien Wenzls Beauftragter. Ein mittelgroßer, kräftiger Mann mit Segeltuchjacke und müdem, mürrischem Gesichtsausdruck. Er streckte Lukowsky seine schwielige Hand entgegen: „Morgen!" – „Morgen!" sagte auch Lukowsky: „Sie sind Herr Gabler?" – „Ja", brummte der Mann, und deutlicher: „Dann woll‘n wir mal! Die Ladung ist schon seit voriger Woche drin. Ausgenommen die beiden Diesel. Die kamen erst gestern. Lassen Sie sich vom Zoll nicht aufhalten." Er öffnete eine mitgebrachte Aktentasche: „Hier sind die Papiere. Sie transportieren Kugellager. Kugellager und Walzenlager. FOB. Nur die zwei Motoren sind zu verzollen." Lukowsky nahm die Unterlagen und fragte: „Ihnen ist klar, daß Maschinen dieser Größenordnung immer von zwei Mann geflogen werden müssen?" Gabler winkte ab: „Paperlapap! Kräht kein Hahn ‘nach!" Er sah Lukowsky zornig ins Gesicht: „Oder paßt Ihnen das nicht? Wie? Geht Ihnen der Nämliche etwa auf Grundeis?" – Lukowsky hob und senkte gleichmütig die Schultern: „Mir ist’s egal. Ich fliege auch ‘ne alte Condor alleine, wenn ich sie kriege." „Dann ist es ja gut!" knurrte Gabler: „Übrigens bekommen Sie jemanden mit." Er grunzte mißmutig: „Genau wie’s die dussligen Vorschriften verlangen. Der Junge muß gleich hier sein." Er wurde unvermutet laut: „Aber lassen Sie den bloß nicht fliegen! Der tut nämlich so, als ob er’s könnte! Sie verstehen?" Lukowsky nickte: „Schon klar." „Zwischenlanden können Sie, wo’s Ihnen Spaß macht", nahm Gabler seinen Faden wieder auf: „Aber bitte nicht unnötig! Wegen der Flughafengebühren, Sprit und so weiter... Finden Sie alles da drin." Er tippte auf die Papiere in Lukowskys Hand: „Verrechnungsschecks. Vorschuß ist auch da. Na ja, wie Herr Wenzl mit Ihnen vereinbart hat... Sonst noch was?" – Seine Stimme hob sich wieder: „Ah, richtig: Wenn Sie die Fracht für Kairo abgeliefert haben, treffen Sie sich mit einem Kerl ... Weiß jetzt nicht, wie der heißt. Wenzl hat’s Ihnen aufgeschrieben. Der will irgendeine archäologische Ausgrabungsstelle aus der Luft fotografieren. Ein Landsmann. Ah, richtig, heißt Wegener! Professor Doktor oder so, glaub ich jedenfalls. Vielleicht will er bloß einen erweiterten Rundflug. Freund von Herrn Löw. Egal. Preis können Sie selber ausmachen, für uns ist das Kundendienst." Er überlegte: „Das wär‘s wohl." Er hielt ihm seine Hand hin: „Also dann!" Sie verabschiedeten sich frostig. Gabler stampfte zum Abfertigungsgebäude zurück. Lukowsky brauchte volle eineinhalb Stunden, um die Planen von den Motoren zu ziehen und die Maschine klarzumachen. Mühsam sprangen die Motoren endlich an. Der Blick aus den Seitenfenstern der Kanzel erschien Lukowsky wie der Blick von einem Feldherrnhügel. Die Frontfenster wirkten wie breite, in stumpfem Winkel aneinandergefügte Schlitze. Er überprüfte alle wichtigen Funktionen. Sämtliche Armaturengläser waren verschmutzt, wie das gesamte Innere des Flugzeuges. Lukowsky nahm sich vor, es bei erster Gelegenheit halbwegs gründlich zu säubern. Er ließ die Motoren warmlaufen und legte diverse Karten zurecht. Der angekündigte «Co» kam, stolperte verschlafen auf die Dakota zu, kletterte hinein und verkrümelte sich irgendwo im Flugzeugrumpf, wo man schlafen konnte. Lukowsky schob den Gashebel nach vorn. Die Triebwerke brausten auf. Er nahm das Gas wieder zurück und löste die Bremsen. Das Flugzeug rollte in Richtung Startbahn. Eine halbe Stunde verging, ehe ihm die Rollbahn freigegeben wurde. Er schwenkte die Maschine ein, bremste, schob den Gashebel auf Vollgas und gab die Bremsen erneut frei. Die Dakota tat einen kleinen Satz und begann mit zunehmender Geschwindigkeit zu rollen. Das Heck hob sich, die Maschine ging in die Waagerechte, stieg dann langsam auf. Trotz ihres Alters lag die Maschine gut in der Luft. Sie gehorchte brav jedem Ruderdruck, zeigte sich in der Luft gar nicht schwerfällig. Lukowsky zog höher und durchstieß lichte Nebelschleier. Bald kam Sonne auf – und ein Gefühl grenzenloser Einsamkeit. – Lukowsky blickte in die sich aneinanderschmiegenden Wolken und dachte: Vera – Dulcinea... – Alles verlief routinemäßig. Nur der Archäologe in Kairo kam nicht. Dr. Kurt Wegener war der Name. Lukowsky wartete einen halben Tag – umsonst. Es gab nicht einmal Nachricht von dem Mann. Kein Bote kam, um eine Botschaft zu übermitteln, nirgends war auch nur ein Zettel deponiert worden. Lukowsky gab das Warten schließlich auf und trat den Rückflug an.

Seit zwei Stunden war Lukowsky wieder im Düsseldorfer Büro. Er hatte im Vorbeifahren das Postfach geleert. Die Post lag vor ihm auf dem Schreibtisch. Es war nichts Auffälliges dabei, weder Unerfreuliches noch Erfreuliches – kein Brief von Vera. .........

Lukowsky lenkte an der letzten Autobahnausfahrt Hagen vorbei und bog einige Kilometer später ab, um Heinz Kufner aufzusuchen und bei der Gelegenheit nachzufragen, wie es den beiden lädierten Motoren der neulich havarierten C-47 ging. Diesmal traf er ihn gleich in der Bahnhofskneipe. Aus der Musikbox quoll ein von Gitarren und Orgel begleitetes Schluchzen. Das Lokal war voll und verqualmt und roch eklig nach Alkohol. Kufners zerknittertes Gesicht wurde um einige Schattierungen weniger mürrisch, als er seinen Freund Ernst Lukowsky kommen sah. Er trennte sich von einer Gruppe palavernder Männer und ging auf Lukowsky zu: „Willst du dich hier ansiedeln?" – Lukowsky drückte Kufners Hand: „Nein. Zuerst den Sprit bezahlen und dann nach den Motoren fragen, du weißt schon." Kufner machte ein unzufriedenes Gesicht: „Ach du Je! Beides hat keine Eile!" Er lehnte sich gegen die Theke: „Aber weißt du, was mir passiert ist, nachdem du weg warst?" – Er klopfte Lukowsky auf die Schulter: „Komm! Erst mal ’ran an die Buletten! – Frau Wirtin!" Dieser wehrte ab: „Hör mal, ich bin mit dem Auto da!" Kufner kniff verschmitzt die Augen zusammen: „Ach! Dein Auto will ich ja auch nicht einladen!" Er nahm der Wirtin ein volles Bierglas aus der Hand und drängte es Lukowsky auf: „Erst mal diesen hier! Horrido und Waidmannsgebrüll!" Sie tranken, und Kufner stieß ihm leicht mit der Faust vor die Brust: „Paß’ auf, was mir passiert ist: Wie ich an dem Abend, als Du keine Zeit mehr hattest, aus der Kneipe zurück in die Werkstatt kam, war da doch einer am Wühlen!" Er betonte nochmals: „War da doch einer am Wühlen! Stell’ dir das vor! Machte ein ganz dummes Gesicht, als ich ihm meine «08» unter die Nase hielt und bat, er möge doch bitteschön die Pfoten im Genick überkreuzen. Dabei sah der Vogel gar nicht aus als ob er’s nötig hatte, bei mir zu klauen. – Was sagst du dazu?" – „Was soll ich dazu sagen", erwiderte Lukowsky: „Du hast ihn ja erwischt!" – „Allerdings", bekräftigte Kufner: „Und weißt du, was der vom Stapel ließ?" – „Du wirst mir’s erzählen." – „Bin dabei! – Er meinte zuerst, er hätte ja bloß auf mich gewartet. Das kaufte ich ihm natürlich nicht ab. Schließlich rückte er raus, was er Wahrheit nannte. Er hätte was gesucht, was du...!" – Er betonte mit erhobenem Finger: „Du! mir gebracht haben solltest – zum Aufbewahren oder so. Ich hab’ ihm das natürlich nicht abgenommen und gesagt, daß er spinnt. Aber er wollte ‘s nicht glauben, fing an, mir da irgendwas abfeilschen zu wollen, bot mir Geld an. Also erlaubte ich ihm großzügig, alles umzukrempeln. Ohne Geld. Das tat er dann auch. Plötzlich entdeckte er ‘nen ollen Gasmaskenbehälter und war ganz aus dem Häuschen. Ich hab’ ihm gesagt, daß bloß Altöl drin ist. Aber er hat ‘s nicht geglaubt und sich die ganzen Klamotten versaut. Danach zog er ab. Höflich wie ich bin, geleitete ich ihn zu seinem güldenen Mercedes – damit er nicht versehentlich dran vorbeiliefe und ihn vielleicht nachts bei mir suchen käme." – Lukowsky nahm das Glas und fragte: „Was war denn das für ein Mann?" – „Nicht mal unsympathisch", antwortete Kufner: „Würde sagen: vornehm, um die dreißig. Fing nicht gleich an, das Knieschlottern zu kriegen, als er in die Pistolenmündung guckte." Kufner hob sein Schnapsglas, worauf der Inhalt überschwappte: „Noch mal! Mit Horrido und Waidmannsgebrüll!" – Lukowsky zog ein paar Geldscheine hervor und drückte sie Kufner in die Hand: „Vielen Dank, Heinz. – Bis demnächst!" „He, he!" rief Kufner ihm nach: „Erfahr’ ich nicht, wonach der komische Vogel bei mir gesucht haben kann?" Lukowsky drehte sich um: „Ich hab’ keine Ahnung. Aber wenn ich raten sollte, würde ich sagen, nach einem grünen Paket! Also tschüs!"

Im Büro erwarteten ihn Cornelius, Fugg und ein dritter Kriminalbeamter in der Pose gelangweilter Angehöriger einer gerade eingetroffenen Besatzungsmacht. Noch im Türrahmen fragte Lukowsky grob: „Was wollen Sie denn hier? Ich laß’ die Tür gleich auf, damit Sie verschwinden können!" Die Beamten verharrten an ihren Plätzen. Cornelius, der sich am Rande des runden Tisches in der Diele niedergelassen hatte, zog eine große schwarze Pistole aus seiner Jackentasche und hielt sie vor der Brust in die Luft: „Ist das Ihre?" Lukowsky trat drei Schritte näher und zuckte wortlos mit den Schultern. Fugg rief entrüstet: „Sie werden doch Ihren sozusagen firmeneigenen Püster erkennen, oder?" Lukowsky lehnte sich gegen die Wand und machte eine nichtssagende Handbewegung:
 „P 38 gibt’s in rauen Mengen, deutsche und auch französische, rund um die Welt." - „Dann sehen Sie sich diese genauer an", forderte Cornelius mit beherrschter Wut. Lukowsky ging auf ihn zu, nahm ihm die zum Ansehen hingehaltene Pistole weg und steckte sie in die Tasche, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben: „Sie gehört unserer Firma. Und das ist völlig rechtens." Cornelius sagte ärgerlich: „Geben Sie die Waffe wieder heraus!" Da Lukowsky nur stumm den Kopf schüttelte und sich wieder an die Wand lehnte, rief Cornelius laut: „Wissen Sie nicht, daß das eine Mordwaffe ist?!" Lukowsky lachte ungeniert drauflos und rieb sich das Kinn. Er schüttelte abermals den Kopf und entgegnete: „Mit solchen Gemeinheiten können Sie vielleicht harmlosen Waffensammlern kommen, um denen die guten Stücke zu stehlen, weil dieser Staat Schiß vor seinen Bürgern hat und sie daher waffenlos sehen will. Aber bei mir zieht die Tour nicht." Cornelius erhob sich und schritt mit ausgestreckter Hand auf Lukowsky zu. Seine Augen wurden eng, seine Stimme vor Wut schnarrend: „Geben Sie mir sofort die Waffe!" Lukowsky reagierte betont ruhig: „Wegen Hausfriedensbruch zeige ich Sie sowieso an. – Bei Ihnen! – Soll noch tätlicher Angriff dazukommen? So ähnlich heißt das doch? Sie müssen sich das Ding nämlich holen!" Die Beamten stellten sich nun in einer Reihe auf. Lukowsky fuhr in schärferem Ton fort: „Wie sind Sie eigentlich hier hereingekommen? Haben Sie einen Ihrer Kunden aus dem Kasten gefischt, damit der hier die Tür knackt? Oder haben Sie selber mit ‘nem Dietrich herumgeprockelt und zufällig Glück gehabt, als Sie’s gerade nicht schaffen wollten?" - „Lukowsky!" stieß Cornelius hervor ohne die Zähne voneinander zu nehmen: „Sie irren sich in uns!" Lukowsky trat neben die Tür: „Daß Sie keinen Haussuchungsbefehl haben, sieht doch ein greiser Leuchtturmwärter ohne Fernrohr! Hätten mir doch sonst längst mit dem Ding unter der Nase herumgewedelt!" Cornelius sagte: „Der Hausmeister ließ uns ‘rein." - „Dann verklag’ ich den eben auch", erwiderte Lukowsky gleichgültig. Cornelius schlug eine verträglichere Saite an: „Nehmen Sie doch Vernunft an! Gut, ich kann Ihnen die Waffe jetzt nicht mit Gewalt abnehmen. Aber kriegen werd’ ich sie doch. Einfacher für Sie, das Ding gleich ‘rauszurücken." Lukowsky schüttelte wieder den Kopf, bevor er antwortete: „Hätten Sie nicht versucht, mich für dumm zu verkaufen und überhaupt diese krummen Touren sein lassen. – Aber so nicht. Außerdem gehört die Pistole der Firma, und da bin ich nicht der Haupteigentümer. Sie ist rechtmäßig erworben, wie Sie wahrscheinlich genau wissen. Und die Zeiten, als ich mich von Behörden einschüchtern ließ, sind schon lange vorbei." Cornelius warf seinen Mitarbeitern einen vielsagenden Blick zu, ehe er sich nochmals an Lukowsky wandte: „Auf morgen, Lukowsky! Wir werden noch ein paar Überraschungen parat halten!" Lukowsky hob und senkte die Schultern. Sein Gesichtsausdruck wirkte unbeteiligt. Ohne weitere Worte verließen die Beamten das Büro. Die Tür blieb offen. Lukowsky schlug sie zu. Er zog seine Jacke aus, wischte damit symbolisch über den Tisch, an dessen Kante Cornelius gesessen hatte, und nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Er griff zum Telefon und rief routinemäßig in Essen beim Kaiserhof an. Vera war nicht mehr da, bloß noch ihre Sachen.

Der weinrote Mustang stand am Rande einer staubigen Landstrasse. Wenige Kilometer entfernt, parallel zu dieser, verlief eine andere, breite, saubere Straße, über die sich kettenweise frischgeputzte Wagen von Wochenendausflüglern schoben. Das sah man aber von hier aus nicht. Lukowsky kannte die Hauptstraße und mied sie wegen des starken Verkehrs. Das Wetter hatte nochmals Wärme in dieses Jahr gebracht. Seine rechte Hand wischte Schweiß von der Stirn und tauchte gemeinsam mit der linken in das kühle Rinnsal, das an der unteren Kante eines schmalen Straßengrabens floß. Lukowsky schüttelte Wassertropfen von den Fingern und ging langsam zum Auto zurück. Nichts drängte ihn zur Eile. Die beiden Türen des Wagens standen offen mit heruntergelassenen Fenstern. Lukowsky setzte sich hinter das Lenkrad und blinzelte ein paar Mal in die Sonne. Er genoß die über der sommerlichen Landschaft liegende Ruhe. Alle möglichen umrißlosen Gedanken schwebten auf ihn ein, Gedanken an Vera, an Buschs wirres Projekt, an Flugzeuge, an Felix – und dann mündete alles wieder bei Vera. Ihre großen graublauen Augen unter dunklen Wimpernstrahlen waren immerzu da, gerufen oder ungerufen. Wie in seine Jugend zurückversetzt kam er sich vor, als er sich während der Sommerferien mit heißem Herzen in jene Frau verliebt hatte, die er nur einmal gesehen und dann gesucht hatte. Es mußte so etwas wie ein unbegreifliches Kennen geben, ein geheimnisvolles Ahnen zwischen Mann und Frau. Dem einen mochte es näher und klarer sein als dem andern, ein prädestiniertes Bild. Es ist in jeden hineingefügt. Und bei jenen, die das Bild klar erkennen, wird es zum Schicksal, es bestimmt das ganze Leben. So muß es wohl sein. Lukowsky zündete sich eine Zigarette an und sinnierte weiter. Die Bilder der Gedanken wurden groß und schön – und doch nicht frei von einer bitteren Ahnung. – Er fuhr weiter.

Dort, wo die Schottersteine des Bahndammes ausgerollt und nur noch vereinzelt lagen, wucherten Gräser und kleine Blumen mit gelben Blüten: Löwenzahn. Ein Auto klapperte über den schrankenlosen Bahnübergang, fegte mächtige Staubwolken auf, verschwand endlich hinter einem öde dastehenden kleinen Haus. Der erste Zug kam. Lukowsky ließ ihn an sich vorbeirattern. Er ging zum Wagen, der schräg am Wiesenrand parkte, und suchte eine Flasche Limonade. Deren Inhalt schmeckte lauwarm. In einer neuen Staubwolke rollte ein anderes Auto über die Gleise. Auch dieser Wagen fuhr vorbei. Lukowsky hatte sich auf der sonnenwarmen Erde am Bahndamm niedergelassen. Nun stand er auf und überquerte die Schienen, um die Straße überblicken zu können. Eine helle BMW-Limousine näherte sich mit verhältnismäßig hoher Geschwindigkeit, rollte schnell heran und bremste voll. Die Reifen kreischten über den Asphalt und hinterließen schwarze Streifen. Eine Tür öffnete sich. Busch stieg aus. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Er winkte mit beiden Händen und rief: „Fahren Sie uns nach!" Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er wieder ein. Die Autotür schlug zu. Der helle BMW brauste davon. Lukowsky sprang vom Bahndamm und lief zu seinem Wagen. Er rangierte hastig und lenkte über die Schienen. Buschs Limousine fuhr bereits weit voraus. Lukowsky folgte. Ab der ersten Kreuzung führte der Weg über die belebte, breite Hauptstraße. An einer Verkehrsampel schloß Lukowsky zu dem hellen Wagen auf. Ein Mann um die Vierzig mit gekräuselten Haaren und zu sanften Gesichtszügen saß neben Busch am Steuer. Lukowsky kurbelte das Seitenfenster herunter. Das Fenster in Buschs Limousine öffnete sich elektrisch betrieben. Busch hielt den rechten Arm heraus und deutete nach vorn: „Wir fahren zum Hotel «Corona». Falls Sie uns aus den Augen verlieren sollten..." – Die Ampel schaltete auf grün. Die Parkplätze des Hotels waren voll belegt. Lukowsky quetschte seinen Mustang zwischen einen Bentley und einen Mercedes. Wo Busch geparkt hatte, wußte er nicht. Während des Rangierens hatte er nicht darauf geachtet.

Vor dem Hoteleingang trafen sie sich. Der Busch begleitende jüngere Mann war mittelgroß, seine Kleidung sehr elegant, seine Bewegungen mitunter ein bißchen geziert. „Herr Fischer – Herr Lukowsky", machte Busch umstandslos bekannt, ehe sie die Hotelhalle betraten. Fischer reichte eine nicht sehr große, weiche Hand. Lukowsky hatte das Gefühl, nicht fest zufassen zu dürfen, als müsse Fischers Hand sonst wie Pudding zergehen. Busch schritt voran, auf die Rezeption zu, und wandte sich an Fischer: „Geht schon vor. Wir kommen nach." – Fischer nickte wissend mit dem Kopf. Er sah Lukowsky an und begann mit dünner, sehr deutlich artikulierender Stimme: „Wir werden im Konferenzzimmer des ersten Stockwerkes warten. Es müßte für uns reserviert sein." Er nickte sich selbst nochmals zu und drückte auf den Fahrstuhlknopf. – In der ersten Etage angelangt, bat Fischer mehr flüsternd als sprechend: „Ich darf vorausgehen?!" und öffnete darauf eine mit olivgrünem Leder gepolsterte Doppeltür. Sie traten in das Konferenzzimmer. Es war länglich und beherbergte einen ebenfalls länglichen Tisch. Zu diesem gehörten zehn Stühle. Je vier zu beiden Seiten und zwei an den leicht oval zulaufenden Tischenden. Den Raum erhellten zwei große, breite Fenster. Alle Wände waren mit Holztäfelung und der Boden mit rostbraunen Teppichfliesen versehen. An der Decke hing eine lange Neonleuchte, deren nach unten weisendes Glas in Form eines verstellbaren Rasters gestaltet war. An der Wand rechts des Eingangs gab es eine Tafel zum Befestigen von Karten oder Tabellen sowie einen Flip-Chart-Ständer. Fischer legte einen flachen krokodilledernen Koffer auf die polierte Holztischplatte und ließ spielerisch die zierlichen Messingschlösser aufschnappen. Er legte sorgfältig verschiedene Blätter und eine zusammengefaltete, große beidseitig bedruckte Karte bereit. Die Polstertür öffnete sich. Busch trat ein. Ihm folgte ein sehr großer, dunkelblonder Mann, bei dessen Auftauchen sich Lukowsky unwillkürlich an eine gerade aktuelle Zigarettenwerbung erinnerte, die einen Mann dieses Typs abbildete. Der Mann sah gut aus und wirkte, als hätte er gerade monatelang unter subtropischer Sonne zugebracht. Die hellblauen Augen des Mannes blickten freundlich, als sei er daran gewöhnt, auf Bedarf jederzeit etwas Nettes zu sagen. Er mochte gut fünfzig Jahre alt sein oder einiges darüber. Aber aus einiger Entfernung mußte man ihn als Vierzigjährigen einschätzen, obschon er eher gegen Sechzig ging. Seine Bewegungen waren elastisch wie die eines Leistungssportlers und strahlten unumschränkte Selbstsicherheit aus. Er sprach mit tiefliegender Stimme und im Stil des Vorstandsdirektors eines Großkonzerns: „Guten Tag, meine Herren!" Busch stellte vor: „Herr Lukowsky – Herr Stephan." Er rückte den Stuhl beim Fenster zurecht: „Setzen wir uns!" Stephan ließ sich direkt neben Busch nieder, Fischer und Lukowsky gegenüber. Die Stühle am Kopfende des Tisches blieben frei. Fischer reichte Busch die vorbereiteten Papiere und plazierte das leere Aktenköfferchen auf dem Stuhl neben sich. Busch nahm die Papiere, legte die Karte gesondert, stieß die Papiere auf die Tischplatte, damit sie gleichmäßig in seinen Händen ruhten, und hub an. Sein Blick richtete sich dabei zunächst auf Stephan und wechselte dann zwischen den Anwesenden: „Nun, ich drückte Herrn Stephan bereits mein Bedauern für die Verzögerung aus und brauche darauf kein weiteres Wort verwenden. Gewisse Umstände zwangen zu dieser geringfügigen Zeitverschiebung." Er machte eine kurze Pause. Ton und Atmosphäre schienen sich gänzlich zu der einer Vorstandssitzung entwickeln zu wollen. Busch überflog die Papiere in seiner Hand, ehe er weitersprach: „Als ersten Punkt möchte ich die Anwesenheit unseres Freundes Lukowsky klären. Er ist bei uns – möchte sagen: zu uns gestoßen – um vor allem eine bewußte uns alle bewegende Ungewißheit aus der Welt zu schaffen. Herr Lukowsky ist von Beruf Flieger, genauer, Transportflugzeugpilot. In den nächsten Tagen wird er unseren Freund Alotti in Toulon treffen. Ich konnte dafür sorgen, daß er durch einen Proforma-Auftrag der Firma Rolland & Löw an die Firma Mahlberg, Gabler & Wenzl GmbH diese Reise mit einem Flugzeug antreten kann, das dort von Nutzen sein wird. Da ein solcher Flug für ihn eine Alltäglichkeit ist und er an sich in keiner Verbindung zu uns steht, ist nicht anzunehmen, daß die Gegenseite daraus irgendwelche Schlüsse ziehen kann. Es wird sehr unauffällig sein." Er hob die rechte Hand zu einer untermalenden Geste: „In Toulon soll Herr Lukowsky die von Alotti bereitgehaltenen Scha blonen übernehmen, um den ursprünglichen Lageort unseres Zielobjektes, respektive des nötigen Zwischenglieds, auszumachen. Ich bitte daher Sie, lieber Stephan, im Anschluß an unser Gespräch die Ihrer Meinung nach zutreffende Position in diese Karte einzutragen." Busch legte die flache Hand auf das zusammengefaltete Papier: „Es handelt sich hierbei um ein Stück in Meßtischblatt-Manier." – Jetzt wandte er sich Lukowsky zu: „Aufgrund der Schablonen werden Sie vom Flugzeug aus selbst kleinste topographische Details erkennen und bestimmen können." Er neigte in seiner vertraulichen Art den Kopf: „Ein Kinderspiel! Unser Freund Alotti wird Ihnen alles erklären. – Sie sollten noch wissen: Herr Stephan war 1944/45 Leitender Ingenieur auf einem U-Boot, danach Kommandant auf U 812. Entgegen offiziellen Angaben, wurde dieses Boot keineswegs vernichtet, vielmehr erfüllte es seinen Auftrag." Busch lächelte verschmitzt: „...erfüllt ihn in gewisser Weise noch heute." Seine Rede galt nun nicht mehr speziell Lukowsky, sondern richtete sich an die ganze Versammlung: „Niemand von uns kann mit Gewißheit behaupten, die Unterlagen befänden sich nicht mehr auf dem Boot." Fischer runzelte die Stirn, blickte zu Stephan und sagte, was ihm wohl durch den Kopf ging: „Nach allen verfügbaren Unterlagen kann es an dem bezeichneten Platz eigentlich kein deutsches U-Boot geben. Nicht, daß ich Ihnen misstraute, aber könnte es sich nicht um ein italienisches handeln? Oder..." - „Entschuldigen Sie, ich muß Sie unterbrechen," mengte sich Stephans Baßbariton ein: „Als wir uns das erste Mal begegneten, sagten Sie, alles Entscheidende – so drückten Sie sich aus – befände sich in Ihrem Besitz und Sie benötigen lediglich die Bestätigung, daß es sich bei alledem nicht um Hirngespinste handelt. Bald darauf behaupteten Sie, das Material sei entwendet worden, und heute erklären Sie, es liege womöglich noch im Boot, und jetzt fragen Sie so etwas! Und wenn – was wäre wichtig daran, ob die Bezeichnung des Boots vielleicht aus Geheimhaltungsgründen eine Änderung erfuhr? Oder ob es möglicherweise ein italienisches mit einer gemischten Besatzung war? Es geht doch jetzt wohl um Dinge, die gegebenenfalls jetzt wichtig wären!" Fischer deutete ein Kopfnicken an. Stephan verzog trotzdem unzufrieden den Mund: „Was verlangen Sie noch, was ich glauben und sagen soll?" Busch erwiderte unbeeindruckt: „Ich verlange von niemanden etwas!" Buschs flache Hand zeigte eine nachdrückliche Geste: „Grundsätzlich nicht!" Er legte eine kurze Pause ein, um dann in der ihm eigenen gemütlichen Art fortzufahren: „Im Grunde haben Sie recht, lieber Herr Stephan. Denn bereits vor unserer Verbindung versuchte ich dafür zu sorgen, daß Valtine sich vorübergehend als Sieger fühlen konnte und mich ungestört arbeiten ließ." Er hielt inne, zog eine Zigarre hervor, entzündete sie langsam und sagte: „Mit einer Attrappe! Jawohl, mit einer Attrappe! Und zwar exakt mit derselben Attrappe, die Valtine selbst früher in Umlauf gebracht hatte, um mich zu täuschen." – Er kniff die Augen zusammen, sein Blick blitzte wach: „Valtine schnappte sich diesen Köder – und der war vergiftet – sozusagen." Busch zwinkerte mit einem Auge: „Womöglich hat das Gift nicht ganz gewirkt. Bald kamen mir Zweifel, ob Valtine nicht längst doch das Original haben könne – aufgrund seiner alten Verbindungen zu alliierten Stellen. Es gelang mir, ihm kurzfristig das abzujagen, was ich möglicherweise für das Original hielt. Doch noch ehe ich dazu kam, die Unterlagen in Ruhe durchzusehen, verlor ich sie wieder. – Ich bin nicht sicher, ob ich nicht meiner eigenen Attrappe nachgejagt hatte! Es klingt kurios, doch ich nehme das beinahe an." Busch schmunzelte in gekünstelter Selbstironie. Dann richtete er sich plötzlich hoch im Sessel auf. Die Hand mit der Zigarre kreiste beschwörend über der Tischplatte. Sein Organ schwoll an: „Ich bin nicht einmal sicher, ob wir bis zur Stunde dieser unsinnigen Attrappe nachhetzen! Niemand von uns kann heute mit Gewißheit sagen, ob das Original überhaupt noch existiert! Ich habe es nie gesehen! Und Sie, Stephan, sahen es zum letzten Mal Anno 1945! Wer garantiert uns, daß es jemals an Land gebracht wurde? Wer will behaupten, es liege nicht mehr in dem U-Boot?!" Busch schloß kurz die Augen, als müsse er sich von körperlicher Anstrengung erholen. Er lehnte sich weit zurück und sog an seiner Zigarre. Stephan machte eine mißmutige Handbewegung gegen den Rauch und begann: „Ihre ehemaligen Kollegen vom SD wollten U 812 ausräumen, aber das hatten zuvor schon Canaris-Gefolgsleute erledigt. Das zumindest weiß ich verbindlich. Mich hat man nämlich nachher ausgequetscht, erst die eigenen Leute und anschließend der Feind. Und ich bin befehlsgemäß stur dabei geblieben, daß wir abgesoffen seien. Die ganze Besatzung hat dieselbe Leier gespielt, soweit Leute von ihr aufgegriffen worden sind. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Noch zwei Jahre nach Kriegsende haben sie uns damit in unregelmäßigen Abständen gepiesackt!" Stephan lehnte sich nun auch zurück: „Reden Sie doch also keinen Bockmist! Auf dem Boot sind noch genau sieben Torpedos, davon zwei ‚Zaunkönige’, Zerstörerknacker, und ein paar Kisten 3,7cm-Flakmunition. Sonst nichts. Nichts über V-Anlagen – auch nicht unter der Bezeichnung Z- oder S-Anlage – und definitiv auch keine Flugscheibenpläne – um das bei dieser Gelegenheit gleich nochmals zu klären." Busch schlug ruckartig die Augen auf: „So!" – Er beugte sich vor und wirkte frisch wie nach einem ausgiebigem Schlaf: „Dabei vergaßen Sie aber den unübersehbaren Kleinkram. Von den Plänen rede ich ja nicht, sie sind für mich uninteressant. Ich rede von Büchsen und Dosen und was es noch alles gibt, worin..." Sein Zeigefinger hob sich gegen Stephan, ehe er weitersprach: „vielleicht Unvermutetes steckt? Könnten Sie’s auf Ihren Eid nehmen, daß diese unscheinbaren Papiere nicht doch noch dazwischen liegen, weil niemand etwas Gescheites damit anzufangen wußte? Gab es nicht genug sichtbare Wertgegenstände an Bord, als daß die Aufmerksamkeit auf eine billige Blechhülle hätte fallen sollen?!" Stephan antwortete nach einem Moment des Nachdenkens gedehnt: „Himmel noch mal ! Sie wissen doch selbst, wie organisiert so was zugeht! Genaue Bestandeslisten und so weiter!" Er wischte mit der Hand über die blanke Tischplatte, als läge sie voller Staub: „Das ist schlichtweg Quatsch, was wir hier reden. Tut mir leid, es so deutlich sagen zu müssen, aber es ist wirklich meine Meinung." Stephan sah zur Uhr und fiel nicht wieder in seine formlose Ausdrucksweise zurück: „Also bitte, Herr Busch! überzeugen Sie sich – oder lassen Sie sich überzeugen. Ich halte das für Zeitvergeudung. Rechnen Sie besser damit, daß Mister Valtine die Nase vorn hat, auch wenn das eine unangenehme Vorstellung ist." „Damit rechne ich!" belehrte Busch kopfnickend: „Aber ich nehme es nicht als gegeben. Und wenn Herr Lukowsky uns Gewißheit in diesem leidigen Punkt verschafft, heißt das durchaus nicht, daß wir inzwischen die Hände in den Schoß legen dürfen!" Stephan bemerkte knapp: „Einverstanden." Eine Pause entstand. Busch sortierte seine Blätter und warf Fischer einen auffordernden Blick zu. Daraufhin erhob sich Fischer, als gelte es ein Referat zu halten. Er schob die gespreizten Finger ineinander und ließ leise die Gelenke knacken. Er trat ans Fenster, öffnete es einen Spalt – mit der Bemerkung: „Schlechte Luft" – ging wieder an seinen Platz und sprach stehend: „Der überraschende Tod unseres Mitstreiters Alfred Beekn bestätigt in gewisser Weise die von Herrn Stephan soeben geäußerte Befürchtung." Fischers Gesicht nahm einen scheinheiligen Zug an: „Herr Lukowsky hatte Alfred Beekn ein Paket übergeben, wie bekannt ist. Daraufhin..." – Busch unterbrach: „Herrn Stephans Zeit ist bemessen, lieber Fischer. Bleiben wir doch bei akuten Dingen, bitte." - „Bitte!" flüsterte Fischer gekränkt, nestelte an seiner auberginefarbenen Krawatte und fuhr lauter fort: „Noch immer bleibt ungeklärt, aus welcher Quelle das von Herrn Lukowsky übergebene Paket stammt. Manches spricht dafür, daß Beekn es sich selber schickte – respektive schicken ließ. Trotzdem kann dies nur schwer angenommen werden, obwohl Herr Beekn uns mit keinem Wort von der Existenz dieses Pakets unterrichtete, das womöglich das echte war. Die theoretische Überlegung muß gestattet sein, inwiefern Herr Beekn die Originalunterlagen – woher auch immer – erhalten hatte, und sie persönlich auszuwerten gedachte. Dies würde den allen Anwesenden bekannten Flugzeugabsturz, beziehungsweise die Sprengung des Flugzeugs, erklären, wodurch der Eindruck erweckt werden sollte, dieses Paket sei vernichtet und somit weitere Nachforschung müßig." Fischer sah Stephan in die Augen: „Im übrigen möchte ich bemerken, daß gewisse Konstruktionspläne für mich sehr wohl von Wichtigkeit sind! Es handelt sich dabei um eine Angelegenheit von allerhöchster nationaler Bedeutung! Sie wissen alle, ich war noch jüngst in meiner vormaligen Dienststelle mit entsprechenden Erhebungen betraut. Das ist eine durchaus ernstzunehmende Angelegenheit!" Busch warf ein: „Aber nicht unsere. Jedenfalls nicht vorrangig." Fischer atmete zweimal tief durch, knackte nochmals mit den Fingergelenken und sprach weiter: „Die Tötung Beekns dürfte jedenfalls bedeuten, der Gegner – einer unserer Gegner – befindet sich gegenwärtig im Besitz wichtiger Originaldokumente. So muß es nicht sein, es ist aber damit zu rechnen. Wir können folglich nicht umhin..." Fischers Blick irrte während anderthalb Sekunden durch den Raum, als besinne er sich, nicht abschweifen zu sollen. Er nagte rasch an der Unterlippe und nahm seinen Faden wieder auf: „...nicht umhin, schnell zu handeln! Und dies auf zwei Ebenen: Zunächst, um klar zu sehen, unternehmen Alotti und Lukowsky das zuvor Besprochene. Gleichzeitig bemühen wir, Busch und ich, uns, Valtine und dessen Gefolge so gut wie möglich im Griff zu halten, das heißt zurzeit: im Auge zu behalten." Fischer sah aus dem Fenster, als suche er dort Anregung für den Abschluß seines Vortrages: „Ja!" sagte er schließlich: „Soweit im Moment." Er setzte sich, überkreuzte die Beine und verschränkte die Arme. Mehrere Augenblicke verstrichen schweigend. Fischer rückte einige Zentimeter im Stuhl vor, Busch betrachtete scheinbar gelangweilt den Raster der Neonlampe unter der Decke, Stephan rieb sich das Kinn, Lukowsky saß eine Zigarette rauchend auf seinem Stuhl. Endlich zog Stephan ein Scheckbuch aus der Innentasche seiner hellbraunen Lederjacke. Das Scheckbuch klatschte auf die polierte Tischplatte. Busch bekam ein leises Leuchten in den Augen. Bei Fischer war nichts dergleichen zu bemerken. Stephan schraubte einen schwarzen Füllfederhalter auf und stellte einen Scheck aus. Er steckte das Scheckheft wieder ein. Der ausgefüllte Schein blieb auf dem Tisch liegen. Stephan erhob sich und fragte: „Also, wo ist die Karte?" Busch schob die Karte zu Fischer, der sie auseinander faltete und Stephan vorlegte. Dieser beugte sich darüber, stützte einen Ellenbogen auf und studierte das Papier: „Woll’n wir mal sehen!" Er drehte die Karte um, bemerkte beiläufig: „Ich muß mir die Sache von See her vorstellen, " und vertiefte sich abermals in das Meßtischblatt. Zwei Minuten lang schien er zu rätseln, zückte schließlich seinen Federhalter und malte ein drei Zentimeter umfangendes Quadrat: „Hier!" sagte er mit tiefer, fester Stimme: „Wenn ‘s hier nicht ist, ist es nirgends!" Er hieb klackend mit den Handknöcheln auf das Holz: „So, Feierabend!" Er schob seinen Stuhl an den Tisch, hob die rechte Hand und schritt ohne sich aufhalten zu lassen zur Tür: „Also, auf Wiedersehen meine Herren und viel Erfolg!" Er nickte den Männern am Tisch nochmals zu und verließ den Konferenzraum.

Im ersten Moment schien es, als habe das Zimmer mit Stephan seinen wesentlichsten, Leben spendenden Bestandteil verloren. Busch, Fischer und Lukowsky hockten still am Tisch. Fischer faltete die Karte zusammen und gab sie in seinen Aktenkoffer. Busch langte über den Tisch und angelte nach dem Scheck. Er hielt ihn wohlgefällig vor sich hin und nickte nachdenklich: „Ja, ja..." Busch legte ein selbstzufriedenes Lächeln auf und wendete sich Lukowsky zu: „So, lieber Lukowsky, nun zu Ihnen! Von sämtlichen Einzelheiten zu reden hätte jetzt noch keinen Sinn. Wir werden das erledigen, wenn es an der Zeit ist." Er steckte seine inzwischen ausgegangene Zigarre wieder an, blies den Rauch aus und breitete die Arme: „Sobald wir alles beisammen haben, informiere ich Sie, Herr Lukowsky. Das heißt, wenn der Termin mit Alotti klar ist, der Auftrag von Löw und somit das Flugzeug... und so weiter..." Er strich Asche ab. Seine Worte klangen belanglos: „Und einige andere Kleinigkeiten." Er zog die Augenbrauen hoch und deutete gleichzeitig mit der die Zigarre haltenden Hand Wichtigkeit an: „Übrigens werden Sie von uns ein bescheidenes, aber regelmäßiges Gehalt bekommen. Später verrechnet sich das mit Ihrem Gewinnanteil an der Sache selbst. Bei uns funktionieren die Dinge schnell und unkompliziert." Er guckte Fischer an und klatschte in die Hände: „Na, das wäre ‘s wohl für heute!"

Sie gingen durch die belebte Halle, in der besonderer Trubel herrschte, wegen einer Mode-Messe. Wirres Durcheinander verschiedener Sprachen und Farben bewegte sich überall. Gestikulierende Männer und meist auffällig gekleidete Frauen teilten den Platz in der Halle unter sich. Busch reichte Lukowsky die Hand: „Uns erreichen Sie hier, falls etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte." Auch Fischer reichte die Hand. Sie fühlte sich wiederum an wie ein lauwarmer Schwamm. „Da bleibt noch eine Kleinigkeit", sagte Lukowsky: „Sie haben vergessen mich zu fragen, ob ich überhaupt mitspielen will!" Busch zeigte eine von Freundlichkeit strahlende Miene und legte vertraulich eine Hand auf Lukowskys Unterarm: „Aber Sie wollen doch, oder?" Er schüttelte nachdrücklich den Kopf und strahlte selbstzufrieden: „Zeigen wir etwa Mangel an Vertrauen in Sie?" Lukowsky sagte: „Sie werden doch wissen, wonach Sie suchen. Wenn Sie es nämlich nicht wissen, hat ‘s keinen Zweck, daß ich mich drauf einlasse. Also?" Busch zog die Hand zurück und entgegnete gutmütig: „Ich sehe schon, ich sehe schon! Wir werden uns besser verstehen als ich anfangs dachte!" Sie schlenderten dem Ausgang zu, und Busch sprach im Plauderton weiter: „Also glauben Sie mir getrost, daß ich weiß, was ich tue! Wenn Sie sich unseres ersten ausführlichen Gespräches erinnern... Sie würden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen die Wahrheit sagte! Das ist das Problem!" Er blieb stehen und lächelte Verständnis erheischend: „Wäre es Ihnen lieber, ich tischte Ihnen eine glaubwürdige Lüge auf?" Zustimmung voraussetzend, sprach er weiter: „Sehen Sie, unser Zielobjekt sprengt sozusagen den Rahmen des Gewöhnlichen ganz außerordentlich! Vielleicht genügt Ihnen vorerst die Andeutung, daß es sich um Gegenstände hohen Wertes handelt, die nicht einmal gestohlen werden müssen, weil sie sozusagen niemandem mehr gehören? Wir tun also auch nichts Kriminelles!" Er ging langsam weiter: „Lassen Sie es uns miteinander versuchen!" Lukowsky fragte: „Wann höre ich von Ihnen?" „Im Laufe der nächsten Tage", antwortete Busch, er wiederholte es: „Im Laufe der nächsten Tage! Wir werden uns telefonisch oder persönlich mit Ihnen in Verbindung setzen."

Eine sonderbare Stimmung schien überall in der Stadt zu kreisen – vertraut und doch fremdartig – unwirklich. Lukowsky wußte, das hatte mit dem Augenpaar zu tun, das ihn von innen her ansah. Es konnte Veras Anliegen nutzen, was er jetzt tat, und allein darum würde er es tun. Don Quijote ritt nun hinaus, um für Dulcinea gegen Riesen und Drachen zu kämpfen – vielleicht auch gegen Windmühlenflügel. –

Er lenkte langsam durch die Straßen, hetzte keiner auf gelb wechselnden Ampel nach. Sein Blick streifte die Menschen, viele Unbekannte. Er sah die Passanten auf den Bürgersteigen wie bunte Farbkleckse, die zu einem wesenlosen Bild verschwammen – weil sie kein Schicksal besaßen.

.........

Es begann gerade zu dämmern, als Lukowsky von der Autobahn abbog, um Heinz Kufner zu besuchen. Die Sache mit den Motoren mußte geklärt werden. Vor der Bahnhofskneipe standen mehrere Autos. Licht und Musik drangen durch Tür und Fenster. Lukowsky betrat die verrauchte Kneipe und sah sich um. Heinz Kufner entdeckte er nirgends. Aus einem Spielautomaten klackerten Groschen. Freudiges Johlen erscholl aus mehreren Männerkehlen. – Lukowsky ging zu Fuß bis zur Werkstatt. Das kleine quadratische Fenster des Kontors war erleuchtet. Die Werkstatt und das Gelände ringsum lagen im Dunklen. Verschiedentlich stieß Lukowsky mit dem Fuß oder dem Knie gegen Eisenteile. Daran war er hier schon gewöhnt. Er rief: „Heinz!" – Wie üblich erfolgte keine Antwort. Er tappte in der zunehmenden Dämmerung weiter voran: „Heinz!" Lukowsky gelangte an das offene Werkstattor. Im Inneren herrschte Dunkelheit. Er stolperte hinein und stieß sich daß Schienbein an irgend etwas. Er tastete nach dem Lichtschalter. Als die Wand glitschig vom zahllosen Hingreifen mit Ölfingern wurde, fand sich der Schalter. Nach kurzem, bläulichem Flackern, flammten vier Neonröhren auf. – Neben der Drehbank rechts des Tores lag Kufner am Boden. Lukowskys Ruf: „Heinz!" wurde zum Schrei. – Lukowsky eilte zu dem Mann auf dem Steinboden, kniete neben ihm nieder und faßte ihn bei der Schulter. – Heinz Kufner war tot. – Erst allmählich begriff Lukowsky. – Zwei Einschüsse mittleren Kalibers klafften in der Brust des ergrauten Mannes. Das Blut war bereits geronnen, der Körper kalt und starr. – Lukowsky ließ die Schulter los. Er blieb eine Weile neben dem Toten hocken und sah ihn an: Kufner hatte die Augen geschlossen. Sehr sonderbar. Sein Gesicht wirkte still und friedvoll. „Felix und Heinz..." sprach Lukowsky langsam vor sich hin, ohne sich der Worte bewußt zu sein. – Er strich leicht über Kufners rechte Hand und stand dann auf.

Lukowsky zog die Mittelschublade des Schreibtisches im Kontor auf. Über zerknüllten Papieren lag eine „08", eine Parabellum-Pistole und ein volles Ersatzmagazin. Das winzige Metallteil, welches wie ein spitzwinkeliges Dreieck über dem Patronenlager der Pistole lag, bezeugte, daß sie geladen und schußbereit war. Er schob die Schublade wieder zu, griff zum Telefon und rief die Polizei: „Hallo? – Ja, was Ernstes. – In der Werkstatt von Herrn Kufner... Söllenweg heißt das hier, glaub’ ich – kennen Sie sowieso! Kommen Sie bitte her." Keine fünf Minuten verstrichen, bis ein Streifenwagen eintraf. Der Wagen war ziemlich groß, trug die weiße Aufschrift «POLIZEI» und silbern gemalte Sterne auf den beiden Vordertüren. Zwei Beamte in Uniform stiegen aus. Sie verhielten sich klar und zielstrebig. Nachdem sie einen ersten Eindruck gewonnen hatten, riefen sie über Funktelefon einen Sanitätswagen und Kollegen in Zivil, deren Gebaren angenehmer Weise nicht an das des Herrn Cornelius erinnerte. Ein Sanitätsfahrzeug kam. Auch ein Arzt war dabei. Den brauchte Heinz Kufner nicht mehr. Die Türen des Krankenwagens schlossen sich hinter ihm.

Es war nun vollständig dunkel geworden. Die beleuchtete Bahnhofsuhr wies zehn Uhr aus. Lukowsky betrat das schräg gegenüber liegende einzige Hotel im Ort. Eine mißmutig dreinblickende dicke Frau hinter der Theke des zum Hotel gehörenden Lokals legte einen Block mit hellrotem Papier bereit: „Füllen Sie den Anmeldezettel aus!" Sie überlegte und fügte ein: „Bitte!" hinzu. Lukowsky schrieb seinen Namen und die Adresse, bezahlte im voraus und erhielt einen Schlüssel: „Im ersten Stock", murrte die dicke Frau, und goß sich ein Glas Rotwein randvoll ein. An dem Schlüssel klimperte eine markstückgroße Plakette mit der eingeprägten Ziffer 4. Er fand die dazu passende Tür und drehte den Schlüssel im Schloß. Die Plakette klimperte abermals. Die weiße Porzellanlampe unter der Decke des kahlen Flurs schaltete sich automatisch aus. Lukowsky knipste das Licht im Zimmer an. Der Raum war verhältnismäßig groß und ordentlich eingerichtet. Das Fenster wies zum Bahnhofsplatz. Lukowsky löschte das Licht und sah aus dem Fenster. Vor der Bahnhofskneipe stand sein Wagen.

Lukowsky ging im Zimmer auf und ab. Er dachte an Heinz Kufner, und er dachte an Felix. Wieder verharrte er am Fenster stehend. Die Ruhelosigkeit blieb. – Er ging hinunter auf den Bahnhofsplatz. Ein Radfahrer fuhr vorbei. Die Pedale des Fahrrads quietschten. Allmählich wurde die Nacht kühl. Das kalte Licht der Straßenbeleuchtung verstärkte diesen Eindruck. Langsam schritt Lukowsky auf seinen Mustang zu. Er schloß auf, setzte sich hinein und legte die Hände ums Steuer. Es fühlte sich eiskalt an. Auch Lukowskys Hände wurden kalt. Er spürte es, als er über das Gesicht strich. – Nach einer halben Stunde kehrte er ins Hotel zurück. Er bestellte eine Tasse Kaffee und nahm sie mit auf sein Zimmer. Nun saß er im Dunkeln auf dem braunen Sessel dieses Hotelzimmers gegenüber dem Bahnhof. Er hielt die ausgestreckten Beine überkreuzt auf der Fensterbank. Aus diesem Winkel sah er nur Dachziegel und Himmel. Heinz Kufner war ermordet worden, sein alter Freund. Erst Felix, jetzt Heinz. – Im Flur klapperte eine Tür. Schon zum dritten oder vierten Mal in beinahe regelmäßigem Abstand von zehn Minuten oder einer Viertelstunde. Leichte Schritte tappten dazu – offenbar bis ans Flurfenster und wieder zurück. – Lukowsky schloß die Augen, dachte an Vera, an Dulcinea, wußte nicht, ob er sich dabei kindisch vorkommen sollte oder nicht... Wo mochte sie sein? – Brüchiger Halbschlaf überkam ihn. Wieder das Türenklappern! – Er rieb sich die Augen und trank den letzten Schluck des mittlerweile kalt gewordenen Kaffees. Die Schritte tappten wieder hin und her. «Seltsam», dachte Lukowsky. Und es sprang in schneller Folge durch seine Gedanken: «Seltsam! Verstohlene Schritte zum Fenster Richtung Bahnhofsplatz! Seltsam! Unnatürlich! Verrückt! Wozu?» – Der Sessel stürzte polternd um. Er hastete zur Tür und riß an der Klinke. Seine rechte Hand schnellte zur linken Hüfte. Der Hahn knackte, sein schwarzer Revolver richtete sich auf eine flüchtende Gestalt im fahl beleuchteten Korridor. Lukowsky sagte: „Halt!" – Die Gestalt blieb stehen. Zuerst Erschrecken und dann Verwunderung stand auf dem schönen Frauengesicht – Vera!

Vera Jörgens trug einen roten Rock mit breitem Gürtel und eine rote Bluse. Der Stoff war vermutlich Seide, er umspielte diesen wundervollen geschmeidigen Frauenkörper. Die erstaunlich langen braunen Haare waren wieder vor der Schulter zu einem dicken Zopf geflochten und dessen Spitze diesmal mit einer roten Schleife zusammengebunden war, welche ungefähr dort hing, wo das linke Hüftgelenk war. Das hatte etwas Schulmädchenhaftes, was weder zu der übrigen Erscheinung noch zu der Situation paßte. In diesem Moment gefiel es Lukowsky nicht, die ganze Frau gefiel ihm in diesem Moment nicht, so schön sie auch aussah, er war voller Mißtrauen. Das währte nur Sekunden, und er schalt sich innerlich, so leicht beeinflußbar zu sein. Vera blieb still stehen und sagte nichts. Lukowsky schritt auf die Frau zu. Er entspannte den Revolver und steckte ihn weg. Die Körperhaltung der Frau lockerte sich. Er stand ihr nun dicht gegenüber. Sie bewegte die Lippen: „Ich hatte Dich nicht gleich erkannt!" Sie atmete tief aus, als habe sie während der ganzen Zeit zuvor die Luft angehalten: „Es hätte jemand anders sein können, und ich bin unbewaffnet." Lukowsky blickte auf die Tür am Flurende, auf die sie zugelaufen war: „Ist das Dein Zimmer?" Sie nickte. Er schob sie vor sich her in den Raum. Nur ein Nachttischlämpchen brannte. Auf dem Bett lag ein Nachthemd bereit. Bei einem Tisch stand ein entsprechender Sessel zu dem in Lukowskys Zimmer. Er drehte den Sessel um und sagte zu Vera: „Setz Dich!" Sie gehorchte. Er setzte sich auf die hölzerne Bettbegrenzung und sah der Frau in die verwundert blickenden Augen, in diese Augen, die er liebte und die ihn nun quälten. Seine Stimme klang so unpersönlich wie möglich: „Was treibst Du hier? Ich dachte wir hätten ausgemacht, Du schickst mich, wenn etwas zu tun ist? Stattdessen ließest Du nichts von Dir hören!" Vera gewann ihre überlegene Selbstsicherheit schnell vollends zurück, die Unsicherheit wich aus ihrem Blick. Sie sagte: „Es kam so plötzlich. Ich mußte jemandem nachfahren. Meinem alten Feind Mark Valtine." Lukowsky fragte: „Per Anhalter?" - „Nein!" entgegnete Vera trotzig: „Mit einem Leihwagen, es war ein hellbrauner BMW. Ich habe ihn in der nächsten größeren Stadt zurückgegeben und kam mit der Bahn wieder her."

Offensichtlich fühlte sie sich schon wieder völlig als Herrin der Lage. Ihr Lächeln kam mit entwaffnender Natürlichkeit. Dann wurde ihre Miene ernst: „Du hast mich nicht erreichen können. Das hatte Gründe. Aber ich habe mich sehr über Deine Grüße gefreut! Ich freue mich auch jetzt, Dich zu sehen, so sehr mich Dein augenblickliches Verhalten befremdet." Lukowsky sagte nichts. Er merkte, sie wollte reden, und ließ sie. Hätte er gesprochen, würde sie jedem seiner Worte angemerkt haben, wie froh er war, sie unversehrt wiedergefunden zu haben. Und doch nagte jetzt Mißtrauen in ihm, ein Mißtrauen, das noch nicht abstreifen konnte und das schmerzte.

Vera zupfte an der roten Schleife herum, die das Zopfende zusammenhielt: „Er war mir auf die Spur gekommen, weshalb ich mich dem Anschein nach zurückzog. Doch die beste Verteidigung ist bekanntlich der Angriff. Also heftete ich mich auf seine Fersen. Er fuhr nach Köln, traf sich mit Löw. Das war bemerkenswert, denn Löw gehört traditionell zur Busch-Partei. Da scheint sich etwas anzubahnen – vielleicht, es kann aber auch nur ein Versuch von Valtine gewesen sein. Einen seiner beiden Schläger hatte er nicht bei sich. Der war vermutlich mit einem Auftrag unterwegs; ich weiß aber nicht, mit was für einem. Schließlich fuhr Valtine hierher. Ich folgte ihm und versteckte mich in diesem Gasthaus. Vom Fenster der Gaststube aus konnte ich sehen, wohin Valtine ging. Dann fuhr sein Wagen davon. Ich begab mich dorthin, wohin Valtine gegangen war. Ich wollte wissen, was er da gemacht hatte." Vera sah Lukowsky voll an: „Das sah ich dann. Ich habe dem alten Mann, den er ermordet hat, die Augen geschlossen und bin wieder gegangen." Sie band die rote Schleife fester um das Zopfende: „Ich brachte, wie gesagt, den Leihwagen weg, weil ich vorhatte, Dich anzurufen. Die Autovermietung hat ein paar Kilometer weiter eine Filiale, das steht in den Unterlagen. Dann kam ich mit dem Zug wieder her. Nun weiß ich, wo Valtine sich eingerichtet hat. Das ist nützlich. Zu meinem Schrecken sah ich dann am Bahnhof seinen Wagen stehen. Er mußte inzwischen zurückgekommen sein. Ich huschte ungesehen in dieses Gasthaus." Sie deutete eine Handbewegung an: „Jetzt ist er weg." Lukowsky fragte: „Ein dunkelblauer Pontiac?" Vera nickte: „Ein amerikanischer Wagen." Lukowsky erinnerte sich, diesen Wagen vor dem Bahnhof stehen gesehen zu haben. Er zündete sich eine Zigarette an: „Der alte Mann, der ermordet wurde, war ein Freund von mir. Vera sagte schlicht: „Das Leben ist manchmal sehr hart. Ich weiß das." Sie schwiegen – eine Minute, zwei Minuten, drei Minuten. Lukowsky rauchte seine Zigarette. Vera ruckte bequemer zurecht. Eine eigenartige Suggestivkraft ging von dieser Frau aus, ganz gleich, was sie tat. Ob sie sprach oder schwieg. Endlich brach sie das Schweigen: „Ich wußte davon!" Lukowsky sah sie fragend an: „Wovon?" - „Von dem alten Herrn in der Werkstatt, Deinem Freund. Wie ich das Schild an der Werkstatt las, erinnerte ich mich, einen Briefbogen mit dem groß aufgedruckten Namen «H. Kufner» auf Deinem Schreibtisch gesehen zu haben, als ich damals kam, um Dich nach Brünner zu fragen. Bitte entschuldige, ich bin daran gewöhnt, wie, wie… eine Spionin zu leben, ich achte auf alles, automatisch, was wichtig sein kann. Ich dachte mir gleich, Du mußt hier gewesen sein, und Valtine meinte, Du hättest vielleicht das grüne Paket hinterlegt. Nur ist mir unklar, wie Valtine darauf kommen konnte." Lukowsky erzählte: „Es war schon ein Mann deshalb bei Heinz Kufner gewesen. Das paßt zusammen. Einer, von dem Heinz sagte, er habe vornehm gewirkt, in den Dreißigern, mit einem goldenen Mercedes...?" Vera sagte: „Ferdinand Löw! Ein Finanzier von Busch, der jetzt möglicherweise mit Valtine kollaboriert, ja, das könnte sein, obwohl – eigentlich kann ich es mich nicht denken. Sonst muß Busch Dich beobachtet haben, oder sein Adlatus Fischer, ohne daß Du es merktest. Bei den beiden bin ich mir übrigens nicht mehr so sicher, wer da wessen Adlatus ist, womöglich ist Fischer der führende Kopf. Ja, wahrscheinlich, er ist schlau und gerissen. Aber das ist jetzt unwichtig." Sie wedelte mit dem Zopfende und sagte: Du bist jetzt mitten in den Strudel des Wahnsinns hinein geraten. Das sagte ich Dir!" Lukowsky stand auf, drückte die Zigarette auf einem Blumenuntersetzer aus, massierte das Gesicht und setzte sich auf die Bettkante. Er sah die Frau an. Der weiche Stoff ihres Kleides malte die Formen ihres geschmeidigen Körpers nach. Lukowsky fragte: „Du vertraust mir nicht so ganz?" Sie lächelte schwach: „Ich glaube doch – so gut ich kann. Ich mag Dich sehr, wirklich sehr! Aber ich habe es verlernt, irgendjemandem ganz und gar zu vertrauen." Ein bitterer Zug trat auf ihr Gesicht. Sie blickte auf: „Ich habe gelernt, zu mißtrauen! Allem und jedem zu mißtrauen. Das war meine Schule des Lebens." Zwei Tränen glitzerten plötzlich in ihren Augen und rollten über ihre Wangen, ohne daß sie schluchzte.

Lukowsky spürte, daß die Frau aus ihren tiefsten Inneren die Wahrheit sprach. Am liebsten hätte er sie in seine Arme genommen und an sich gedrückt. Er sagte: „Ich glaube Dir. Und ich sage es noch einmal: Du kannst mir vertrauen! Vollkommen." In Gedanken sprach er weiter: «Wenn Du mein Blut brauchtest, würde ich dir mein Blut geben, wenn Du meine Augen brauchtest, würde ich Dir meine Augen geben, wenn Du mein Herz brauchtest, würde ich Dir mein Herz geben, ich gäbe mein Leben für Dich, ohne auch bloß einen kleinen Moment zu zögern und fände es wunderbar, alles für Dich geben zu dürfen. So stehe ich zu Dir, Vera, und mehr ist nicht zu sagen, Vera – Dulcinea.» Doch diese Worte sprach er nicht aus. Trotzdem war ihm, als ob die Frau jedes einzelne Wort gehört hätte, empfangen direkt aus seinen Gedanken. Zwei weitere Tränen rannen aus ihren graublauen Augen, die jetzt noch größer und schöner wirkten als sie ohnehin waren. Sie sagte, anscheinend unvermittelt: „Nichts liebe ich so sehr wie «Tristan und Isolde» – Liebestod. Magst Du Wagner?" – Ernst Lukowsky kannte diese Musik einigermaßen gut und auch die Empfindungen, die sie hervorrufen kann. Er nickte. Veras ruhelose Hände lösten den Zopf wieder auf. Nach ein paar Augenblicken begann sie übergangslos: „Ich habe keine Pistole dabei, nur einen Dolch. Ein Erbstück von meinem Vater. Mit diesem Dolch werde ich Mark Valtine töten, falls es sonst niemand tut." Sie wickelte das rote Band, mit dem ihr Zopf zusammengebunden war, in anhaltender Nervosität um den Zeigefinger ihrer linken Hand.

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